Unsere menschliche Disposition lässt uns fürsorglich empfinden und zum Wohl anderer handeln. Dabei steht diese Fähigkeit, fürsorgliche Beziehungen mit anderen Menschen einzugehen, in intensivem Zusammenhang mit dem eigenen Glück und Wohlergehen. So wünschen sich die meisten Menschen ein harmonisches Familienleben und Freundschaften, die unterstützend wirken. Wenn wir die Wirkung intimer Beziehungen für unser Glück untersuchen, so zeigt sich eine Form der positiven Rückkoppelung: Glückliche Menschen sind erfolgreicher darin, Rückhalt durch Partner und enge Vertraute zu finden, und eben dieses Gefühl der Verbundenheit fördert wiederum die eigene Zufriedenheit. Darüber hinaus ist das Glück intimer Beziehungen auch für unsere Gesundheit förderlich. Wie zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen, leiden Eheleute seltener unter Erkrankungen des Herzens, entwickeln stärkere Abwehrkräfte und genesen schneller nach Operationen.

 

Und wie steht es mit der romantischen Liebe?

Wenn wir die romantische Liebe als ein Gefühl bezeichnen, so meint dies ein Zusammenwirken von Empfindungen, gedanklichen Prozessen und ebenso kulturellen Prägungen. Und selbstverständlich lässt sich romantische Liebe nicht auf biologische Erklärungen reduzieren! Dennoch sei die Frage gestellt, welche ursprünglichen Empfindungen die Entwicklung der hochkomplexen menschlichen Liebesfähigkeit ermöglicht und auf den Weg gebracht haben. In evolutionärer Hinsicht steht die romantische Liebe vermutlich mit evolutionärem Wettbewerb einerseits, andererseits mit der natürlichen Fürsorglichkeit in Zusammenhang.

 

  • Die Ursprungstheorie vom evolutionären Wettbewerb lässt sich für folgendermaßen auslegen: Aus biologischer Sicht hilft die romantische Liebe vor allem dabei, zwischen möglichen Partnern wählen und Aufmerksamkeit und Energie auf die genetisch optimale Möglichkeit richten zu können.
  • Das Geschehen der Brutpflege bei Vögel und Säugetieren zeigt: Neugeborene sind auf Verbundenheit ausgerichtet und empfinden eine solche Nähe. Höher entwickelte Säugetiere werden vom frühen Erleben geprägt und suchen auch im späteren Leben vergleichbare Verbundenheit

 

Im Tierreich gilt das Paarungsvorspiel der Sexualität und hat den Charakter eines Wettbewerbs. Doch wäre eine solche Erklärung zum Ursprung der romantischen Liebe unzureichend. Dagegen lässt sich gut argumentieren, dass jegliches Empfinden von Nähe und Verbundenheit viel eigentlicher in Zusammenhang mit dem Geschehen der Brutpflege steht. Richard David Precht erklärt dies: „Allem Anschein nach ist die mütterliche – bei manchen Tieren: elterliche – Fürsorge der Quell der Liebe. Wer eine intensive Brutpflege betreibt, muss die Bedürfnisse seiner Schützlinge ahnen und ihre Gefühle nachvollziehen können. Diese Fähigkeit wurde bei zahlreichen Tieren beobachtet. Und von der Sorge um die Brut zum Schützen verwundbarer oder verwundeter Artgenossen könnte es möglicherweise in einem gleitenden Übergang gekommen sein bis hinein zu den Beziehungen zwischen nicht miteinander verwandten Erwachsenen.“

 

Das evolutionäre Geschehen lässt sich demnach als eine Zunahme von kognitiven und empfindsamen Fähigkeiten interpretieren, wodurch sich der emotionale Wirkungskreis über die engste Familie zu immer differenzierterem Sozialverhalten ausdehnt. So kommt es zu den individuellen Beziehungen unter Menschenaffen und schließlich zu jenem wunderbaren Geschehen, das wir als die besonders Intimität der romantische Liebe erfahren. Doch nicht allein in evolutionärer Hinsicht, sondern auch in Hinsicht auf unsere individuelle Entwicklung überzeugt die These von einer Genese der romantischen Liebe aus der frühkindlichen Bindungserfahrung. Der Psychologe Michael Mary meint dazu: „Die Mutter (oder die am nächsten stehende Person) stellt für das Kind den Urgrund dar, in dem es sich aufgehoben und geborgen fühlt. Mit der Mutter entsteht sogar die umfassendste Erfahrung intimer Verbundenheit durch gleichzeitige körperliche, emotionale und psychische Nähe. Durch diese frühe und prägende Erfahrung wird die intime Beziehung zu der Beziehungsform, in der ein größtmögliches Ausmaß an Verbundenheit erlebt wird. Es wundert daher nicht, dass Menschen im späteren Leben Verbundenheit in einer vergleichbar intimen Beziehung suchen, in einer Beziehung, die neben psychischen auch emotionale und körperliche Aspekte umfasst; in der intimen Beziehung zum Liebespartner.“  

 

Frühe Erfahrungen aus der Bindung zu unseren Eltern bestimmen maßgeblich unser erwachsenes Empfinden. Dieses spätere Suchen nach Entsprechung gilt vermutlich besonders für die romantische Liebessehnsucht. Das Ziel der romantischen Sehnsucht ist daher nicht lediglich das Finden eines Sexualpartners, denn zugleich suchen wir einen Mensch, der unsere Gefühle und Gedanken positiv stimuliert, uns Vertrauen einflößt und einen wie auch immer gearteten Halt im Leben gibt. Wir suchen Geborgenheit und Anregung! Und gelingt jener Zustand der Verliebtheit, so schafft er in uns ein Erleben, das dem magischen Erleben eines Kleinkindes nicht unähnlich scheint. Denn indem wir dem geliebten Menschen unendliche Besonderheit verleihen, erfahren wir schließlich auch unsere eigene Besonderheit. Unsere Liebe erscheint uns dabei als „etwas ganz Reales, etwas geradezu Gegenständliches, eine Sache, die man gewinnen und verlieren kann, etwas, das wie ein Dunst im Raum schwebt, wenn Liebende darin umhergehen“, schreibt Richard David Precht.

 

Der Einfluss frühkindlicher Erfahrungen gilt nicht allein für allgemeine Wünsche und Sehnsüchte. Auch die konkrete Ausgestaltung in Form intimer Liebesbeziehungen spiegelt zugleich Vorlieben, Bedürfnisse und Ängste, welche die Liebenden in kaum bestimmbaren Ausmaß aus ihrer Kindheit mitbringen. Dabei steht das Bedürfnis, geliebt zu werden, in engem Zusammenhang mit unserem Bedürfnis nach Anerkennung. Precht schreibt: „Liebende verleihen einander Bedeutung durch die Bedeutung, die sie für den anderen haben.“ Besonders in der romantischen Liebe steht die Sehnsucht nach Bedeutung wohl in Zusammenhang mit frühen Erfahrungen von Bedeutung, die uns unsere Eltern verliehen haben. Zugleich zeigt sich folgender Umstand. Auch wenn Nähe und Geborgenheit von Kindern und Eltern gemeinsam empfunden werden, erhält das Kind sein Selbstbild doch in viel stärkerem Maß durch die Beziehung zu den Eltern, als dies umgekehrt der Fall ist. Dagegen ist die Anerkennung, die sich reife Menschen in der Liebe schenken, ein Empfangen und Geben zugleich. So prägt uns die Fürsorglichkeit, die wir als Kind erfahren haben, indem sie die Voraussetzung dafür schafft, dass wir Vertrauen, Stabilität und Fürsorglichkeit uns selbst schenken können. Ebenso versetzt sie uns in die Lage, intime Beziehungen zu anderen Menschen eingehen zu können und jenen anderen durch unsere Gefühle und Gedanken Bestätigung und Bedeutung zukommen zu lassen. Eine positive innere Repräsentanz hilft uns schließlich dabei, mit den Signalen mangelnder Achtung oder gar Missachtung, die in menschlichen Beziehungen ja ebenso passieren, umgehen zu können und sie als Ansporn zu nehmen, ohne unverhältnismäßig verärgert oder beunruhigt zu reagieren.

 

Liebe ist keine bloße Empfindung, kein Impuls und auch nicht einzig das Bedürfnis nach Erregung und Anregung, Nähe und Geborgenheit. Als Gefühl ist Liebe zugleich etwas, das mit Vorstellungen und Gedanken einhergeht. Richard David Precht erklärt den Unterschied zwischen Emotion und Gefühl: „Gefühle haben mehr Bodenhaftung. Sie sind durchgängiger und langlebiger. Und sie sind, wie gesagt, mit Vorstellungen verbunden. Ich muss mir kein Essen vorstellen, um Hunger zu haben, und kein Bett, um müde zu sein. Wenn ich trauere, denke ich an jemanden, um den ich trauere. Ich stelle ihn mir vor. Bei Eifersucht und Neid denke ich an den- oder diejenige, um die es geht oder den ich beneide. Auch die Liebe braucht ein Liebesobjekt. Wenn ich liebe, liebe ich jemanden. Ich projiziere etwas in ihn hinein. Meine Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen haben ein Gegenüber und ein Ziel.“

 

Und während wir Affekte wie Hunger, Kälte oder sexuelle Erregung vermutlich sehr ähnlich erleben, können unsere Vorstellungen und Gedanken höchst unterschiedlich sein. Als emotional-gedankliche Zustände zeigen sich Gefühle daher äußerst vielfältig; jeder Mensch erlebt sie ein wenig anders. Zugleich tun sich zwischen Empfindungen, Gefühlen und Gedanken Freiheitsgrade auf. Unseren Empfindungen sind wir ausgeliefert; dagegen können wir unsere Gedanken, Überzeugungen und Interessen sehr wohl gestalten. Derart entsteht das ambivalente Verhältnis aus Zwang und Einflussmöglichkeit, das wir gegenüber unseren Gefühlen erleben. Diese Unterscheidung von Empfindung, Gefühl und Gedanke findet eine Entsprechung in den Zuständen Lust, Verliebtheit und Partnerschaft. Ob wir einen Menschen erregend finden, das können wir nicht entscheiden. Dagegen muss nach Richard David Precht „Verliebtheit immer erst als Verliebtheit begriffen werden. (…) Dieser Prozess (des Begreifens) geschieht nicht nur einmal, etwa beim ersten Verlieben. Er begegnet uns Tag für Tag in unseren Liebesbeziehungen – jedenfalls dann, wenn tatsächlich von Liebe die Rede sein soll.“ So können wir mittels unserer Überzeugungen einen gewissen Einfluss darauf ausüben, wie viel Bedeutung wir jeweils an das Ereignis der Verliebtheit knüpfen.

 

Nach aller Kenntnis hält der Zustand der romantischen Verliebtheit nicht ewig, sondern dauert im Durchschnitt nur Monate, in Einzelfällen wenige Jahre. Für eine Partnerschaft, die über diesen Zeitraum hinaus zusammenhält, gilt demnach, dass sie mit bewussten und reflektierten Motivationen zu tun hat. "Es ist nicht länger das Gefühl reiner Begeisterung, das uns verbindet, sondern wir wissen nun, was wir aneinander haben" - so wenig romantisch drücken viele Menschen, die eine langjährige Beziehung führen, ihre Zuneigung aus! Und es gibt auch gute Gründe, allzu romantischen Vorstellungen mit Skepsis zu begegnen:

  • Eine sehr übertriebene Idealisierung der romantischen Liebe, wie sie beispielsweise romantische Filme zeigen, schafft Fantasien, die unerreichbar sind und führt deshalb zwangsläufig zur Frustration. 
  • Es wäre eine sehr enge Sichtweise, intime Beziehungen großer Vertrautheit nur in der romantischen Liebe zu suchen. 
  • Man kann durch Lust und Leidenschaft sein geistiges Gleichgewicht verlieren – nicht viel anders, als dies bei Ärger oder Hass der Fall ist.
  • Allgemein gilt, dass reine Sinnlichkeit und Sexualität niemals ein bleibendes Wohlbefinden vermitteln, sondern immer in einen Kreislauf des Verlangens eingebettet sind, der sich ständig wiederholt. Damit kehrt das ursprüngliche Zufriedenheitsniveau bald zurück. Um sich nicht zu sehr vom eigenen Verlangen beherrschen zu lassen, ist daher eine gewisse Vorsicht ratsam. Sonst kann sich der Genuss schließlich in eine Art von Leid verwandeln, zu problematischen Beziehungen und süchtigem Verlangen führen. Dies soll den Wert von Sinnlichkeit und Sexualität aber auch nicht herabsetzen!
  • Romantische Glücksgefühle verflüchtigen sich nach einer gewissen Zeit. Eine Beziehung, die sich nur auf die anfängliche Leidenschaft stützt, ist daher sehr labil und unbeständig.
  • Zusätzlich hängen manche Gefühle davon ab, ob unsere eigenen Ziele und Wünsche, die wir auf andere projizieren, erfüllt werden. So kann der romantischen Liebe auch eine Tendenz zum Destruktiven innewohnen. Solange die anderen unsere Erwartungen erfüllen, ist alles gut, aber wenn sie es nicht tun, kann sich die anfängliche Begeisterung sogar sehr radikal in Wut, Abneigung oder gar Hass verkehren. 

Diese möglichen Probleme in Zusammenhang mit romantischen Gefühlen bedeuten keineswegs, langfristige Partnerschaften würden keiner liebevollen Gefühle bedürfen. In modernen Zeiten ist es nur selten wirtschaftliche Notwendigkeit, die Partner aneinander bindet. Es sind Gefühle, die verbinden und unser Interesse bestimmen. Auch nach der intensiven Verliebtheitsphase sollten wir unseren Partner immer noch als liebenswert und trotz aller Vertrautheit zudem als anregend empfinden. Sonst würden Langeweile und Desinteresse eine Beziehung in heutiger Zeit wohl sehr schnell zerstören.

 

Sicher führt die anfängliche Verliebtheit zum Gefühl intensiver Verbundenheit. Um diese Verbundenheit auch in einer daraus resultierenden langfristigen Partnerschaft zu bewahren, braucht es besonders fürsorgliche Zuneigung und gegenseitige Anerkennung, Verantwortungs- und Pflichtgefühl gegenüber dem Partner. Liebe, Güte und Vertrauen treten als ideale Eigenschaften noch hinzu. Aufgrund solcher Eigenschaften kann eine Beziehung langfristig Kraft geben und in besonders wohltuender Weise gelingen. Als wesentlichen Nenner weisen diese sehr förderlichen Eigenschaften alle auf eine Haltung hin, die das Wohl des Partners, der eigenen Familie und der Freunde beachtet und darum besorgt ist.

 

 

Größere Gemeinschaft

Intime Beziehungen sind auf das gemeinsame Wohlergehen gerichtet und besitzen einen beträchtlichen Nutzen für das eigene Glück und die Gesundheit. Diese Erkenntnis kann helfen, eine Motivation zu errichten, die ehrlich dem Wohl anderer Menschen gilt. Hier ist natürlich kein "Beziehungsvertrag" zum gemeinsamen Nutzen gemeint, sondern ein natürliches Empfinden, das die Veranlassung gebt, zum Wohl anderer zu denken, zu sprechen und zu handeln. In aller Regel wollen wir unsere Kinder, Partner, Eltern, Geschwister und Freunde glücklich sehen. Die tatsächlich gelebte Moral meint, dass es für viele Menschen ein echtes Anliegen ist, für ihre Angehörigen und Mitmenschen zu sorgen. Sie ist keine Angelegenheit kühler Rationalität oder Berechnung. 

 

Schließlich entwickeln wir auch in größerem Maßstab Verantwortungsgefühl und fühlen uns der weiter gefassten Gemeinschaft, etwa den Kollegen in der Arbeit, verpflichtet. Die Fähigkeit zu Fürsorglichkeit und Mitgefühl führt schließlich dazu, dass uns auch Fremde etwas angehen und wir ihnen nicht gleichgültig gegenüberstehen. Viele Menschen fühlen sich, wenn sie mit einem notleidenden Menschen konfrontiert sind, verpflichtet zu helfen. Hier sagt das moralische Verständnis klar und deutlich, dass es falsch wäre, nicht zu helfen. Das natürliche Empfinden kann aber auch dazu führen, sich parteiisch zu verhalten. Die Bevorzugung des eigenen Kindes ist ein natürlicher Impuls. Das Gemeinschaftsgefühl kann jedoch die sehr problematische Wendung nehmen und zwischen der eigenen Gemeinschaft gegenüber anderen unterscheiden und zu Ungerechtigkeit und Feindseligkeit führen. Dieses Problem ist übrigens den Religionen, die von umfassender Liebe und universellem Mitgefühl sprechen, sehr bewusst. Sie geben das Ideal umfassender Liebe und fordern eine Haltung, die ehrlich um das Wohl aller Mitmenschen bemüht ist. Aus Sicht einer säkularen Ethik ist die Anerkennung des gemeinsamen Menschseins erforderlich. 

 

 

 

 

Literatur: 

Richard David Precht: Liebe. Ein unordentliches Gefühl ; Goldmann 2010

Michael Mary: Lebt die Liebe, die ihr habt ; Nordholt 2018