In einem früheren Abschnitt war von einer inneren Einstellung die Rede, die helfen kann, unser geistiges Wohlbefinden zu fördern und zu bewahren. Es wurde behauptet, dass dies mit der Bereitschaft verbunden sei, mitfühlend zu empfinden. Nun wollen wir Fürsorglichkeit als ein natürliches, „biologisches“, Empfinden in den Blick nehmen, denn Fürsorglichkeit ist seit jeher instinktiv in uns Menschen angelegt! Nirgendwo wird dies so deutlich wie am Beispiel einer Mutter, die für ihr Kleinkind sorgt. Ihre Fürsorglichkeit entspringt dabei einem natürlichen Empfinden, das die Veranlassung gibt, zum Wohl ihres Kindes zu handeln.

 

Fürsorglichkeit ist instinktiv in uns angelegt und bildet die Grundlage oder den Ursprung weiterer sozialer Regungen und Sympathien bis hin zum moralischen Empfinden und Urteilen. Bereits der Vater der Evolutionstheorie,  Charles Darwin, erkannte mit großartiger Klarheit die Bedeutung sozialer Instinkte für unser moralisches Empfinden. In „Die Abstammung des Menschen“ schreibt er: „Schließlich entsteht unser moralisches Gefühl, oder unser Gewissen; ein äußerst kompliziertes Empfinden, entsprungen den sozialen Instinkten, geleitet von der Anerkennung unserer Mitmenschen, geregelt von Verstand, Eigennutz und, in späteren Zeiten, von tiefen religiösen Gefühlen, und befestigt durch Erziehung und Gewohnheit.“  

 

Darwins Überlegung zum Ursprung unseres Gewissens ist überaus aufschlussreich. Wir finden darin umfassend die Beweggründe moralischen Handelns: Instinktives, soziales Empfinden, Achtung und Missachtung durch unser gesellschaftliches Umfeld, Vernunft, Eigennutz, religiöse Gefühle, Erziehung und Gewohnheit. Zugleich sind dies jene Aspekte, die für die Auseinandersetzung mit Moral, für Ethik, wichtig sein müssen. Gemeinsam bewirken sie das, was sich als Motivation oder auch "guter Wille" bezeichnen lässt.

 

Dieser Abschnitt behandelt daher Fürsorglichkeit als ein natürliches, instinktives Empfinden, das die Quelle weiterer sozialer Empfindungen wie etwa Mitgefühl, Güte, Toleranz oder Versöhnlichkeit gibt. Dies soll anhand der evolutionären, stammesgeschichtlichen und der individuellen menschlichen Entwicklung geschehen. Bevor wir uns mit der evolutionären Seite menschlicher Fürsorglichkeit befassen und dessen Ursprung im Tierreich betrachten, stellt sich jedoch eine sehr grundsätzliche Frage. Besitzen Tiere überhaupt Gefühle? Empfinden sie?

 

 

Vom Empfinden der Tiere

 

Vermutlich werden wir die Frage, ob Tiere ein Empfinden besitzen, mit unserem Hausverstand spontan bejahen. Welcher Hundehalter würde seinem Tier keine freundliche Zuneigung, kein freudiges Ausleben von Verbundenheit zusprechen, wenn es sein Herrchen oder Frauchen mit wedelndem Schwanz begrüßt? Dennoch ist die Antwort aus Sicht der empirischen Wissenschaften, wozu auch die Neurologie gehört, keineswegs so eindeutig. Da Gefühle und Empfindungen ausschließlich subjektiv erlebt werden, stellen sie ein kaum lösbares Rätsel dar. Zwar können die Aktivitäten bestimmter Areale des Gehirns, besonders im Limbischen System, mit emotionalen Reaktionen in Zusammenhang gebracht werden. Möglicherweise bezeichnen solche Aktivitäten aber nur das Auslösen entsprechender Reaktionen. Woher sollen wir wissen, was Tiere tatsächlich empfinden?  

 

Und wie sieht es mit sehr einfachen Tieren, beispielsweise mit Insekten, aus? Woher soll eine Fliege so viel Bewusstheit nehmen, um tatsächlich Empfindungen zu besitzen? Was ist mit solchen Tieren, die kein Gehirn besitzen? Schließlich müssen auch sie Gefahren entkommen, sich Nahrung beschaffen und sich vermehren. Braucht es also auch für die einfachsten Lebewesen die Fähigkeit, Angenehmes und Unangenehmes zu empfinden und zu unterscheiden? Gibt es vielleicht eine Art Grund-Bewusstsein, welches selbst das kleinste Insekt über den Status einer empfindungslosen Maschine hebt?

 

Auch wenn die Fähigkeit der Vermeidung, Ernährung und Fortpflanzung bei den meisten Tieren rein instinktiv abläuft, scheint sie doch im Zusammenhang mit dem Empfinden von Lust und Schmerz. Wenn es sich aber um ein Empfinden handelt, so können wir dieses selbst bei kleinsten Lebewesen als ein, wenn auch im weitesten Sinn, geistiges Vermögen bezeichnen. Und je deutlicher Tiere die natürliche Regung zeigen, angenehme Erfahrungen zu machen und Schmerz fernzuhalten, desto klarer können wir einen Zusammenhang mit uns Menschen erkennen, deren Denken und Empfinden von Freude und Leid handelt. Diese Auffassung gibt uns die Basis, um das Verhalten der Tiere als Grundlage menschlicher Gefühle zu interpretieren. Nur so können wir die Frage nach dem Ursprung menschlicher Fürsorglichkeit im Tierreich stellen.

 

Geht es um fürsorgliches Empfinden, so gilt das besondere Interesse den Säugetieren. Säugetiere gibt es seit etwa 250 Millionen Jahren. Sie sind nach der Geburt mehr oder weniger hilflos und vollkommen abhängig davon, versorgt zu werden, da sie sonst sterben würden. Mit dem Säugen gehen in vielen Fällen auch eine intensive Brutpflege und ein fürsorgliches Verhältnis zu den Jungen einher. Wie aber entsteht ein solches Verhältnis? Empfinden Säugetiere und auch Vögel eine Art Verbundenheit mit ihrem Nachwuchs? Besitzen sie so etwas wie eine Empfindung der Nähe? Je nach Blickwinkel wird dies unterschiedlich beurteilt.

 

Beginnen wir mit dem Blickwinkel eines Kindes. Der für Kinder und auch für Kinderliteratur charakteristische Blickwinkel lässt sich als anthropomorph bezeichnen: Menschliche Eigenheiten werden naiv projiziert. Tieren werden Beweggründe zugesprochen, die aus Gründen des rationalen Denkens nur dem Menschen zugänglich sind. In gewisser Hinsicht bildet der für die industrielle Fleisch- und Milchgewinnung notwendige technische Blickwinkel die Kehrseite dazu. Während der kindliche Blick das Tier vermenschlicht, wird es für das technische Verstehen auf wenige Aspekte reduziert: Welche Bedingungen braucht das Schwein, Huhn oder Rind für sein Wachstum? Wie lässt sich die maximale Menge an Milch gewinnen? Beispielsweise werden Kälber gleich nach ihrer Geburt von den Muttertieren getrennt. Die Trennung geschieht, da die Muttertiere dann leichter wieder für die Milchproduktion zur Verfügung stehen, ohne ihre ganze Milch dem Kalb geben zu wollen.

 

Drittens lässt sich der naturwissenschaftliche Blickwinkel ausmachen. Dieser sieht das Tier als Teil eines biologischen Systems. Bekannt ist das Modell für instinktives tierisches Verhalten von Konrad Lorenz, der für seine Tierpsychologie im Jahr 1973 gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern den Nobelpreis erhielt. Um das Instinktverhalten von Tieren zu erklären, unterschied Lorenz die auslösende Situation, die Erregung des Tieres und einen Mechanismus in seinem Inneren – den Auslösemechanismus. Die spezifische Situation (der so genannte Schlüsselreiz) kann beispielsweise bei jungen Vögeln eine leichte Erschütterung des Nestes bedeuten, welche sie zum Sperren ihrer Schnäbel veranlasst. Damit eine Situation aber zum Schlüssel für ein bestimmtes artspezifisches Verhalten werden kann, braucht es etwas, das Konrad Lorenz den Auslösemechanismus nannte. Diesen betrachtete er für das einfachste Reagieren als angeboren, um dann sehr häufig durch spätere Eindrücke modifiziert und überlagert zu werden. Lorenz sprach von einer Funktion des Nervensystems.

 

 Ist es aber gerechtfertigt, von einem Mechanismus und einer Mechanik tierischen Verhaltens zu sprechen? Tatsächlich vermittelt manches Instinktverhalten einen mechanischen Eindruck, etwa wenn man Vögel dazu bringt, Futter in orange Töpfe zu stopfen, oder wenn sie die Instinktbewegung, um ein Ei ins Nest zurück zu befördern, auch dann noch weiter ausführen, nachdem das Ei entfernt wurde. Das Problem, das sich aus der Analogie mit einem leblosen Mechanismus ergibt, wird jedoch daran deutlich, wie Konrad Lorenz die Erregung des Tieres dachte. Lorenz interpretierte diese Erregung als Handlungsbereitschaft und benutzte die Analogie von einem hydraulischen Modell. Damit ist ein Behälter gemeint, der ständig mit Wasser gefüllt wird, wobei sich ab einem bestimmten Druck der Abfluss öffnet und bei minderen Wasserdruck wieder verschließt. Die aktionsspezifische Energie der Tiers wäre hierbei der Wasserstand, der anstiege und zu einem gewissen Druck führe, bis ein Schlüsselreiz den unten angebrachten Verschluss öffnen würde und das Wasser abfließen beziehungsweise dem Tier die Instinkthandlung ausführen ließe. Als Beweis für dieses Modell erachtete Lorenz so genannte Leerlaufbewegungen, die Tiere mitunter ausführen. Als Beispiel gilt etwa einen Hund, der sein Spielobjekt wild schüttelt, eine Bewegung, die einem im Maul befindlichen Kaninchen umgehend das Genick brechen würde. Nach der Theorie von Lorenz würde das Schütteln des Spielobjekts dem Tier helfen, angestaute aktionsspezifische Energie, für die sich kein passenderer Schlüsselreiz findet, abzuführen.

 

Dieses Modell des Instinktverhaltens schuf Konrad Lorenz bereits 1937. Heute gilt die Theorie allerdings als überholt. Besonders wurde keine hirnphysiologische Entsprechung für ein solch "hydraulisches" Modell von Instinkthandlungen und Trieben gefunden. Auch würde beispielsweise eine Kuh auf der Weide kaum sinnlose und kräfteraubende Fluchtbewegungen anstellen, bloß um Fluchtenergie abzuführen, wenn sie keine reale Bedrohung empfindet. Neuere Ansätze, etwa die Affekttheorie von Silvan Tomkins, sprechen von angeborenen neuronalen Strukturen, an denen irgendwie auch das limbische System beteiligt sein soll. Ist der auslösende Reiz für eine bestimmte Emotion vorhanden, wird das Affektprogramm aktiviert und die körperlichen Reaktionen, die für die jeweilige Emotion charakteristisch sind, prägen sich aus.

 

Doch gleich, wie komplex dieses Theorien auch sein mögen, können sie das grundlegende Problem nicht beseitigen. Denn zwischen dem, was ein Computerbild an Erkenntnisse über Gehirnaktivitäten liefert, und dem, was ein Lebewesen möglicherweise empfindet, liegen im wahrsten Sinn des Wortes Welten. Sicher dürfen wir Empfindungen nicht nur quantitativ und damit mechanisch und messbar denken. Empfindungen besitzen geistige Qualitäten. Wenn etwa der Hund seine Totschüttel-Bewegung vollzieht, dann fühlt er eine zornige Aufwallung, die ihn zugleich knurren lässt. Ebenso liegt der Fluchtbewegung einer Kuh höchst wahrscheinlich eine erschrockene Emotion zugrunde. Dies führt zu einer vierten Betrachtungsweise für tierisches Verhalten. Viertens lässt sich der phänomenologische Blickwinkel anführen. Denn wir können auch danach fragen, was es für ein innerer Zustand ist, der ein Tier motiviert. Hat beispielsweise das Muhen eine innere Bedeutung für die Kuh? Ist es überhaupt mit einer Empfindung verbunden? Wie wäre es, eine Kuh zu sein? Sehen wir, was eine Milchbäuerin auf die Frage, ob die weiter oben erwähnte übliche Trennung von Muttertier und Kalb unbedingt notwendig sei, antwortet: „Man kann sie schon bei der Mutter lassen, aber wie es in unserer Größe schon ist (der Hof hat 70 Tiere), ist es eigentlich nicht mehr möglich. Es ist schon möglich, aber für einen selbst ist es auch nicht angenehm. Der Trennungsschmerz zwischen Kuh und Kalb wird immer größer und man hört dann auch die Kuh dementsprechend lang nachplärren (weinen).“

 

Das Tier vermag also durch seine Körpersprache und sein Lautieren zu zeigen, ob es entspannt, zufrieden, lebhaft, angespannt, ängstlich oder aufgeregt ist. Francoise Wemelsfelder schreibt: „Für das Erfassen des höher entwickelten Tieres in seinen Empfindungen bedarf es mehr als nur die objektive Beobachtung und das Wissen um Arteigenschaften und Bedürfnisse. Es bedarf der persönlichen Begegnung, der Geduld, Aufmerksamkeit und Zuwendung und der einfühlenden Kommunikation in einer Weise, wo nicht das schlichte Anderssein eines Tieres oder die Gleichförmigkeit seines Instinktverhaltens im Zentrum stehen. Dann vermag das Tier seine Erwartungen, sein Vergnügen, seine Freude oder Zufriedenheit genauso wie seine Angst, seinen Zorn, seine Frustration oder Langeweile zu zeigen; es wird für uns zum Subjekt, zu einem empfindungsfähigen, kommunizierenden Wesen.“

 

In Hinblick auf die industrielle Fleischproduktion und Massentierhaltung scheint daher aus einer phänomenologischen Perspektive klar, dass höher entwickelte Tiere, die aktiv sein, selbst handeln, Kompetenzen setzen und wählen dürfen, um sich Bedürfnisse zu erfüllen, mehr Lebensqualität besitzen. Ja, selbst Stress und Frustration gehören zur Normalität eines Tierlebens!

 

 

Evolution

 

Bis ins 19. Jahrhundert dachte man gemäß der christlichen Schöpfungslehre, dass die Tier- und Pflanzenarten zu einem bestimmten Zeitpunkt von Gott erschaffen worden seien und ewig und unveränderbar seien. Mit Darwins Theorie von der Evolution des Lebens aufgrund von Selektion kam die zum damaligen Zeitpunkt schockierende Einsicht, dass Mensch und Affe gemeinsame Vorfahren haben. Doch entstand Darwins Theorie nicht zufällig. Sie lag aufgrund vorhandener wissenschaftlicher Erkenntnisse sogar nahe. Auch wurde der evolutionäre Grundmechanismus etwa zeitgleich noch von einem anderen Forscher, Alfred Russel Wallace, entdeckt.

 

Einen entscheidenden Hinweis, dass Lebensformen auseinander hervorgehen, fand Darwin im vorhandenen Wissen um die Tierzüchtung. In seinem berühmten Werk „Die Entstehung der Arten“ behandelte er die Nutztierzüchtung an vorderster Stelle. Den gleichen Mechanismus der Weitergabe von Merkmalen durch Fortpflanzung sah er nun auch in der Natur am Werk. Er dachte dabei etwa an die Entstehung der unterschiedlichen Finkenarten, die er Jahre zuvor während seiner Weltreise auf den Galapagos-Inseln beobachtet und naturgetreu gezeichnet hatte und die sich von jenen Arten am Festland durch sinnvolle Anpassung unterschieden. Als weiteres Indiz kam der von der Wissenschaft längst erkannte Umstand hinzu, dass tiefer gelegene und daher ältere Gesteinsschichten sehr unterschiedliche Fossilien enthalten. In früheren Zeiten hatten also, wie man wusste, andere Tierarten gelebt. Zunächst hatte die Wissenschaft versucht, diesen Umstand durch das Einwirken von Katastrophen zu erklären. Katastrophen hätten die Erde jeweils stark verändert und zu einem Massensterben von Organsimen geführt. Aus anderen Regionen seien dann andere Lebewesen eingewandert. Schließlich setzte sich jedoch die Erkenntnis durch, dass die Erde durch Vulkane, Erdbewegungen und Klimaeinflüsse fortwährend verändert wird. Der Gedanke, Lebewesen als ebenso veränderlich zu betrachten, war daher nicht abwegig.

 

Die ältesten Fossilienfunde sind Bakterien. In Gesteinsschichten wesentlich jüngeren Alters finden sich sodann Zeugnisse von Pflanzen und Tieren. Der entwicklungsgeschichtliche Weg führt hierbei über erste Fische zu den Amphibien, weiter zu den Reptilien und schließlich zu den Vögeln und Säugetieren. Besonders mit Letzteren findet die Evolution zu einem wesentliche sparsameren Umgang mit Nachkommen. Beispielsweise laicht ein einziger weiblicher Frosch etwa 30 000 Eier. Angenommen es entstünden daraus zirka 15 000 weibliche Frösche, ergäbe eine Rechnung für die folgende Generation bereits 450 Milliarden Frösche. Natürlich tritt dies niemals ein, da die Bedingungen der Umwelt und die natürliche Selektion jeweils nur wenige Exemplare überleben lassen. Die gleiche Rechnung würde aus einem einzigen Vogelpaar in nur 15 Jahren immer noch eine Nachkommenschaft von zehn Millionen Tieren ergeben. Ein Schimpansenweibchen dagegen bringt im gleichen Zeitraum gerade einmal zwei Jungtiere zur Welt. Da die Schimpansin sich als Säugetier um ihren Nachwuchs kümmert, ihn nährt, pflegt und beschützt, sind die jungen Schimpansen in weitaus geringerem Maße gefährdet, durch zufällige Bedingungen oder Feinde getötet, selektiert zu werden.

 

Es handelt sich beim Gebären und Versorgen eines bereits lebenden Nachwuchses, wie Säuger das tun, um eine erfolgreiche Strategie, die überall auf der Erde ökologische Räume besetzten konnte. Zwar sind Säugetiere an Land am artenreichsten verbreitet, doch bevölkern sie als Fledermäuse auch die Luft und beispielsweise als Delfine und Wale die Meere. Zugleich zeigen abgeschottete Lebensräume wie etwa Australien eine sehr eigenständige Entwicklung. Innerhalb der Systematik werden die vielen Arten australischer Beutelsäuger nicht als höhere Säugetiere klassifiziert, denn ihr Sozialverhalten gilt als eher unterentwickelt. Viele Arten leben einzelgängerisch oder in lockeren Verbänden ohne komplexer Rangordnung und sozialen Strukturen. 

 

Die Bindung zwischen Muttertier und Jungtier, wie sie sich bei Säugetieren zeigt, lässt eine Lebensweise entstehen, die nicht mehr ausschließlich unter dem Motiv der Konkurrenz steht. Es lässt sich annehmen, dass sich aus dieser Muttertier-Jungtier-Bindung im Laufe der Evolution das weitere soziale Empfinden entwickelt hat. So wird aus dem anonymen Zusammenschluss der Tierherde das Rudel, dessen Mitglieder einander kennen und oft eine Rangordnung und eine gewisse Arbeitsteilung verfolgen. Dies gilt etwa für Hirsche, Gämsen, Löwen und Wölfe. Auch wenn die Tiere innerhalb der Gruppe sehr wohl eigennützig agieren und miteinander konkurrieren, kommt es ebenso zu kooperativen sozialen Merkmalen. Schließlich offenbaren Primaten einer einfühlsamen Begegnung individuelle Eigenschaften und charakteristische Persönlichkeitsmerkmale. Berühmt wurden die Schilderungen von Jane Goodall aus den 1970ern, die den von ihr im Nationalpark in Tansania beobachteten Orang-Utans Namen gab, sie nicht nur mit Nummern versah, wie dies bis dahin üblich war.

 

So wie Jane Goodall berichtet auch der angesehene Zoologe und Verhaltensforscher Frans de Waal über das Sozialverhalten von Schimpansen, dass zahllose Fälle von offensichtlicher Tröstung dokumentiert seien. Um in dieser Weise zu reagieren und etwa durch eine Umarmung zu trösten, müssen die Tiere die Emotionen ihrer Artgenossen wahrnehmen  und spüren. Waal beobachtete zudem einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Fellpflege und dem späteren Teilen des Futters bei in Gefangenschaft lebenden Schimpansen. Diese erinnern sich daran, wer sie gelaust hat, und revanchieren sich später mit einer Gefälligkeit. Sie empfinden Sympathien für bestimmte andere Tiere in ihrer Gruppe, so de Waal, und ebenso „lügen“ und „betrügen“ sie auch. Besonders interessant ist ein bekanntes Experiment, in dem Schimpansen auf unterschiedliche Weise mit Gurken oder aber den viel begehrteren Trauben belohnt wurden. Während Gurken normalerweise gerne gefressen werden, führt dieses Angebot in Anbetracht besser entlohnter Artgenossen sehr schnell zum Protest. Schimpansen scheinen über bloßen Neid hinaus ein Empfinden für Unfairness zu besitzen.

 

Was können diese Befunde verdeutlichen? Das Geschehen der Evolution meint mehr als nur einen Mechanismus, der die Tauglichsten überleben lässt, wie bisweilen unterstellt wird. Der russische Schriftsteller und Forscher Pjotr Kropotkin (1842–1921) war einer der ersten, der gegen eine solche Auslegung der Evolutionstheorie als Überleben der Tauglichsten protestierte. Überall im Tierreich, bei Bienen, Möwen und Füchsen, fand Kropotkin Zusammenarbeit und Teamgeist, Selbstlosigkeit und Fürsorge. Ein solch soziales und kooperatives Verhalten, wie etwa bei Primaten, die ihre Nahrung teilen, hilft Evolutionsbiologen zufolge, der Gruppe und dem Nachwuchs, die Gene der eigenen Art weiterzugeben. Es gilt damit einer höheren Ebene, die Entwicklung hin zu kooperativem Verhalten wird folglich als Höherentwicklung bezeichnet.

 

Es wäre daher eine verengte und falsche Sichtweise, allein den Aspekt des erbarmungslosen und aggressiven Wettkampfes im tierischen Verhalten zu sehen, wo doch - nach ebenso menschlichen Begriffen - in gleichem Maß Kooperation und Fürsorglichkeit in den Vorgängen zu finden sind. Dieser Befund steht zudem einer sehr problematischen Ideologie entgegen, die im 20. Jahrhundert im Nationalsozialismus verheerende Folgen hatte, dem Sozialdarwinismus. Der Sozialdarwinismus sieht den erbarmungslosen Konkurrenzkampf menschlicher Rassen bis zur Vernichtung der feindlichen Rassen als ein durch die Evolution begründetes Gesetz. Sehen wir demgegenüber die weitsichtigen Überlegungen des großen Darwin selbst. Charles Darwin schrieb:

 

 „Wenn der Mensch in der Kultur fortschreitet und kleinere Stämme zu größeren Gemeinschaften vereinigt werden, so wird das einfachste Nachdenken jedem Individuum sagen, dass es seine sozialen Instinkte und Sympathien auf alle Glieder der Nation auszudehnen hat, selbst wenn sie ihm persönlich unbekannt sind. Ist dieser Punkt einmal erreicht, so besteht dann nur noch eine künstliche Grenze, welche ihn abhält, seine Sympathie auf alle Menschen aller Nationen und Rassen auszudehnen. In der Tat, wenn gewisse Menschen durch große Verschiedenheiten im Äußeren oder in der Lebensweise von ihm getrennt sind, so dauert es, wie uns unglücklicherweise die Erfahrung lehrt, lange, ehe er sie als seine Mitgeschöpfe betrachtet. Sympathie über die Grenzen der Menschheit hinaus, d.h. Humanität gegen die niederen Tiere scheint eine der spätesten moralischen Erwerbungen zu sein (…). Diese Tugend, eine der edelsten, welche dem Menschen eigen ist, scheint als natürliche Folge des Umstands zu entstehen, dass unsere Sympathien immer zarter und weiter ausgedehnt werden, bis sie endlich auf alle fühlenden Wesen sich erstrecken.“

 

Wir finden einen deutlichen Beleg für die These, dass sich das soziale Empfinden höherentwickelter Lebewesen aus der Brutpflege ergeben hat. Diesen Beweis liefert unsere individuelle frühkindliche Entwicklung. Denn dort zeigt sich, wie überaus bedeutsam die Prägung, die Säugetiere in ihrem frühesten Lebensabschnitt empfangen, für ihr weiteres soziales Empfinden ist.(1)

 

 

Frühzeit

 

Für das Wissen um die Vor-Menschen spielen fossile Knochenfunde eine große Rolle. Ein sehr bekannter Fund stammt aus Äthiopien und trägt den Namen Lucy. Es handelt sich um einen weiblichen Vormenschen, der vermutlich vor mehr als 3 Millionen Jahren gelebt hat und dessen Skelett durch glückliche Umstände nicht von Raubtieren zernagt wurde. Das Weibchen dürfte etwa 25 Jahre alt und etwas über einen Meter groß gewesen sein. Aus dem Knochenbau lässt sich der aufrechte Gang aufgrund der Verlagerung des Lebensraums in die Savanne ableiten. Dennoch sind die Armknochen stärker als die Beinknochen ausgeprägt. Lucy dürfte häufiger auf den Bäumen geklettert als am Boden gelaufen sein. 

 

Auch das aufgrund der Schädelform angenommene Gehirnvolumen ähnelt dem der Schimpansen. Moderne Menschen besitzen gegenüber Schimpansen das dreifache Gehirnvolumen (2). Die für Menschen charakteristische große Unabhängigkeit von angeborenen Verhaltensweisen steht in Verbindung mit dem Umstand, dass das menschliche Gehirn eine physiologische Frühgeburt ist. Die Verbindungen zwischen den Nerven bilden sich größtenteils erst nach der Geburt, das Gehirn ist daher in den ersten Lebensjahren extrem formbar und entwickelt sich in Zusammenhang mit Lernerfahrungen. Auch Schimpansen haben eine „spielende“ Kindheit im Sinne einer intensiven Lernphase für das Gehirn. Doch ist das menschliche Gehirn ist bereits vor Geburt größer und legt in den ersten Lebensjahren viel stärker zu. 

 

Ein Zusammenhang zwischen den Faktoren wird vermutet. Die zunehmend aufrechte Fortbewegung führte über viele Jahrtausende zu einer Veränderung des Körperbaus, die zugleich eine Verengung des weiblichen Beckens mit sich brachte. Dies könnte zu früheren Geburten geführt haben, was unserer Lernfähigkeit den entscheidenden ersten Anstoß gab. 

Die wirklich drastische Vergrößerung des Gehirns findet jedoch erst statt, als Menschen bereits länger als eine Million Jahre auf zwei Beinen unterwegs sind. Auch hierzu gibt es eine Theorie. Obgleich Mensch im Tierreich das weitaus größte Gehirn in Relation zu ihrem Körpergewicht besitzen, macht dessen Körpermasse nur 2 Prozent aus. Doch benötigt das Gehirn 25 Prozent der durch die Nahrung zugeführten Lebensenergie. Schimpansen, die nur ein Drittel unseres Gehirnvolumens besitzen, verbringen bereits einen Gutteil des Tages mit Fressen. Wie aber funktioniert die Energieversorgung beim Menschen? Vermutlich begannen Menschen bereits vor 1,5 Millionen Jahren damit, ihre Nahrung zu kochen. Dieses Kochen kann als ein „Vor-Verdauen“ verstanden werden, wo Energie eingespart wird. So ist es möglich, dem Gehirn mehr Energie zur Verfügung zu stellen. 

 

  Sicher lebten die verschiedenen Menschenarten in ähnlich sozialer Weise wie ihre Artverwandten, die Menschenaffen, in Sippen und Horden unterschiedlicher Größe. Angesichts der vergleichsweise schwachen körperlichen Ausstattung scheint für ihr Jäger- und Sammlerleben eine andere Überlebensstrategie als die der Kooperation kaum möglich. Daher war es nicht das stärkste Individuum, sondern die tauglichste Gemeinschaft, die aufgrund von Zusammenhalt, gegenseitiger Hilfe und Kooperation gegen die raue Natur überlebte. Der deutlichste Beleg für die fortwährende Kooperation liegt in der einzigartigen Sprachfähigkeit, die der Homo Sapiens entwickelte. Seine Kulturgeschichte beginnt vor etwa 70 000 Jahren und führte, ausgehend von Ostafrika, zur weltweiten Verbreitung. Dies geschah nicht aufgrund von biologischer Anpassung, sondern mit Hilfe seines kognitiven Vermögens.

 

Man spricht von einer kognitiven Revolution, denn in einem Zeitraum von zehntausenden Jahren kam es zu tiefgreifenden Veränderungen im Empfinden, Fühlen und Denken jener frühen Menschen. Mit dem Wachsen des Vorstellungsvermögens entstanden zunehmend individuelle Eigenheiten, die nicht länger einer nur gemeinschaftlichen Identität folgten. Zuletzt kam es zu jener starken Rationalisierung des Denkens, die in der Philosophie als Logos bezeichnet wird. Dennoch besitzen wir nach wie vor den starken Gemeinsinn, der unseren Vorfahren unter harten Bedingungen das Überleben ermöglichte. Auf dieser ursprünglichen Ebene meint Wohlbefinden daher primär ein Empfinden, das mit anderen Menschen geteilt wird, in starkem Bezug zur Gemeinschaft steht und Fürsorglichkeit sichert.

 

Ist von ursprünglich angelegter Fürsorglichkeit die Rede, so soll dies keine Verklärung der ursprünglichen menschlichen Lebensweise und Kultur bedeuten. In ferner Vergangenheit bestand zwischen Sippen und Völkern kein gemeinsames Interesse. Sie standen ausschließlich in Konkurrenz zueinander, was vermutlich häufig zu blutigen Konflikten führte. Der Historiker Noah Harari schreibt: „Nur zweimal hatten Anthropologen die Möglichkeit, große und relativ dichte Populationen von unabhängigen Jägern und Sammlern zu beobachten: Im 19. Jahrhundert im Nordwesten Nordamerikas und im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Nordaustralien. Auf beiden Kontinenten berichteten die Anthropologen von zahlreichen bewaffneten Konflikten zwischen den Gruppen von Wildbeutern.“  Dagegen sind ethnologische Feldforschungen an heute lebenden Stämmen von Wildbeutern hinsichtlich der Häufigkeit von Gewalt und blutigen Konflikten nur bedingt aussagekräftig, denn die verbliebenen Völker leben zumeist in entlegenen Regionen wie der Arktis oder der Kalahari, wo kaum Konkurrenz zu anderen Völkern besteht.

 

Vermutlich gehörten zur Lebensweise mancher Stämme von Jägern und Sammlern Unbarmherzigkeit gegenüber Alten, Kranken, Frauen und Kindern, und auch Grausamkeit. Vielleicht war das Zusammenleben der Menschen vielerorts aber auch harmonisch und gleichberechtigt und unter der Regie des Mythos weit erfreulicher, friedlicher, bequemer und gesünder als dies später in landwirtschaftlich geprägten Kulturen der Fall war.

 

Auch wenn der Befund zur Gewaltbereitschaft bei Naturvölkern unterschiedlich ausfällt, sodass die aus der Evolutionstheorie abgeleitete sozialdarwinistische Ideologie für die menschliche Frühgeschichte nicht widerlegt werden kann, lässt sich über das ursprüngliche menschliche Sozialverhalten in jedem Fall sagen, dass die natürliche Fürsorge und der Zusammenhalt im Vordergrund stehen. (2)

 

 

 

Anmerkungen

 

(1) Das Geschehen der Evolution wird durch zufällige Übertragungsveränderungen der Erbinformation, die sich in einem lokalen Bereich der Wirklichkeit als vorteilhaft erweisen, sowie durch zufällige Geschehnisse vorangetrieben. Spricht diese Zufälligkeit dafür, dass unsere Entstehungsgeschichte und damit auch die kognitiven menschlichen Fähigkeiten bloß irgendein beliebiges Ereignis sind? Oder entstanden und bewährten sie sich mit Notwendigkeit? Verbirgt sich eine uns unbegreifliche Sinnhaftigkeit und Bedeutung dahinter? Vielleicht sogar ein göttlicher Plan? Oder bringt der blinde Zufall bloß Resultate hervor, die so aussehen, als verfolgten sie ein Ziel?

 

Aus meiner Sicht lautet die Antwort: Wir wissen es nicht und wir können es auch nicht wissen. Vielleicht wird die Wissenschaft eines Tages die Entstehung des Lebens vollkommen verstehen und etwa die Bildung von sich selbst reproduzierender DNS ebenso auf zufällige Bedingungen rückführen. Würde dies etwas an unserem Nichtwissen ändern? Nein. Allein schon die Einteilung des Geschehens in Zufall oder aber Determinismus ist unserer menschlichen Verständnisfähigkeit von Kausalität geschuldet. So schließen wir von scheinbar zufälligen Bedingungen auf eine generelle Zufälligkeit - oder glauben an eine Schöpfung. Ist nicht Beides bloße Spekulation und unmöglich zu überprüfen? Erforschen lassen sich nur die äußerst komplexen Wirkungen innerhalb des Ganzen. Zu diesem Thema ist die „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant zu nennen. 

 

(2) Wenn wir das menschliche Gehirn mit dem von anderen Tieren vergleichen, so sind dessen durchschnittliche 1,2 Kilogramm im Vergleich zur Gehirnmasse eines Elefanten mit bis zu fünf Kilo oder eines Wals mit bis zu neun Kilo gering. Doch ist die Größe des Gehirns nicht entscheidend. Erst die in der Evolution sich allmählich bildende Großhirnrinde zeichnet verantwortlich für komplexeres geistiges Reagieren. Dieser Cortex gibt eine Art Kommandozentrale, wo alle Sinneseindrücke zusammenlaufen und koordiniert werden. Er findet sich noch nicht bei Insekten und einfachen Organismen. Als ebenso wichtig gilt ein leistungsfähiger Informationsspeicher, das Gedächtnis, wie ihn beispielsweise Vögel oder Mäuse besitzen. Schließlich kommt es etwa bei jungen Hunden und Katzen zu spielerischen Phasen, die als Lernphasen der Hirnrinde interpretiert werden können. So bildet sich die Möglichkeit, angeborene Verhaltensmuster zu variieren, Situation zu erinnern und neue Strategien zu erlernen.

Ist also die Größe der Gehirnrinde für unsere Intelligenz maßgeblich? Auch dies trifft nicht zu. Einmal kann der Cortex seine Fläche durch Faltenbildung vergrößern. Besonders aber zeigt sich der Wissenschaft, dass ähnlich große Gehirne sehr unterschiedliche Anzahlen von Neuronen beherbergen können. So sind die Neuronen im Gehirn eines Nagetiers wesentlich größer als diejenigen im menschlichen Gehirn. Hätte ein Hase die gleiche Zahl von Neuronen wie ein menschliches Gehirn, würde sein Gehirn 36 Kilo wiegen, was sodann einem Körpergewicht von neun Tonnen entspräche! Dagegen beträgt die Neuronenzahl einer Delfinart, dem Grindwal, allein im Cortex etwa doppelt so viel wie beim Menschen. Im Unterschied zu Haien, die kaum Cortex besitzt, gelten Delfine als sehr lernfähig. 

 

Trotz dieser Einschränkungen ist die Größe des menschlichen Gehirns nicht bedeutungslos. Einmal gilt dies, wenn wir die Masse des Gehirns in ein Verhältnis zur Körpermasse setzen. Wissenschaftler haben für dieses Verhältnis Gehirnmasse zu Körpermasse einen Quotienten erschaffen, der einen Vergleich mit anderen Lebewesen zulässt. Beträgt dieser spezielle Quotient bei Kaninchen, Ratte und Maus etwa eine halbe Einheit, liegt er vergleichsweise bei Pferd, Hund und Katze bei Eins, bei Primaten liegt das Verhältnis von Gehirn zu Körper schon über Zwei. Gegenüber dem Homo Sapiens ist dies jedoch bescheiden, denn dieser erreicht beinahe Acht. Einzig die klügste Delphinart kann uns hierbei mit einer Fünf einigermaßen das Wasser reichen. Auch wenn die Masse unseres Gehirns gerade mal zwei Prozent unserer durchschnittlichen Körpermaße ausmacht, ist dies im Vergleich zu anderen Tieren also sehr viel. 

 

Damit zeigt sich ein erheblicher Unterschied zwischen der menschlichen Gehirngröße und jener anderer Primaten. Gorilla, Orang-Utan und Schimpanse kommen bloß auf ein Drittel der menschlichen 1300 bis 1700 Kubikzentimeter. Auch die frühesten Funde von Schädeln des Homo erectus, die bis zu zwei Millionen Jahre alt sind, lassen auf ein deutlich größeres Gehirn schließen. Eine Erklärung dafür könnte mit dem Wandel des Lebensraums zur Savanne und dem daraus resultierenden aufrechten Gang unserer Vorfahren zu tun haben. Denn dies könnte eine Verengung des weiblichen Beckens bewirkt und zur typischen Eigenschaft des Menschen, eine physiologische Frühgeburt zu sein, geführt haben. Das unfertige Hirn Neugeborener steht nun vermutlich in Zusammenhang mit der großen Lernfähigkeit und Formbarkeit des menschlichen Gehirns und der langen Kindheitsphase des Menschen. Resultat ist ein Säugetier, das vergleichsweise frühzeitig geboren, aufrecht gehend und mit einem überaus großen Gehirn ausgestattet ist. 

 

So scheint das allmähliche evolutionäre Wachstum des menschlichen Gehirns nachvollziehbar. Doch kam zu dieser Entwicklung noch ein Katalysator hinzu. Denn ein so großes Gehirn bedeutet einen enormen Energiebedarf. Bei zwei Prozent Anteil am Körper saugt es beinahe 25 Prozent der über die Nahrung zugeführten Energie auf! Wieso aber hat der Mensch im Unterschied zu anderen Primaten überhaupt die Möglichkeit, dem Gehirn so viel Energie zu geben? Gorillas und Orang-Utans verbringen immerhin acht Stunden am Tag mit Fressen, viel länger geht wohl nicht. Wir hingegen haben trotz unseres Gehirns viel Zeit dafür, uns mit anderen Dingen zu beschäftigen. Der Neurologin Suzana Herculano-Houzel zufolge lautet die Antwort: Wir kochen. Diese, vor vielleicht 1,5 Millionen Jahren entwickelte Methode, Nahrung zuzubereiten, bedeutet eine Art "Vorverdauen" der Nahrung, was in wesentlich kürzerer Zeit viel mehr Energie einbringt. 

 

 

Literatur: 

Richard David Precht: Die Kunst, kein Egoist zu sein ; Goldmann 2010

Johannes Hemleben: Darwin ; Rowohlt 1968

Frans de Waal: Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte ; Hanser 2008