Die Bedeutung liebevoller Fürsorglichkeit zeigt sich bereits im Tierreich. So zeigten Studien über das Verhalten von Affen, dass Affenkinder, die bei ihren Müttern aufwuchsen, insgesamt verspielter und weniger streitlustig waren als solche, die direkt nach der Geburt von ihren Müttern getrennt worden waren. Letztere legten ein aggressives Verhalten an den Tag, das darauf hindeutete, dass sie emotional erregt waren und dass es ihnen an innerer Sicherheit mangelte. Mütterliche Fürsorglichkeit gilt also nicht nur der Versorgung, sondern fördert ebenso die Fähigkeit des kleinen Affen, später selbst fürsorglich zu sein. Die Bindung zum Muttertier prägt das spätere soziale Verhalten des Jungtiers.

 

Desto deutlicher zeigt sich die Bedeutung für das menschliche Kleinkind. Auch der Mensch ist ein solches Säugetier, das lebend gebiert und seinen zum Zeitpunkt der Geburt vollkommen hilflosen Nachwuchs mit eigener Milch säugt. Schon vor Geburt lassen sich früheste Empfindungen, Gedächtnis- und Lernleistungen beim Fötus feststellen. Bereits im Mutterleib ist der Fötus in der Lage zu sehen, zu schmecken, zu riechen, zu fühlen und zu hören. Wenn seine Mutter erschrickt, so führen ihr beschleunigter Herzschlag und die Ausschüttung von Adrenalin zu lebhaften Bewegungen des Ungeborenen, die als ängstliches Unbehagen interpretiert werden können. Ebenso ergaben Untersuchungen, dass Föten ab dem fünften Monat durch ein lautes Geräusch und eine anschließende sanfte Vibration konditioniert werden können. Sie strampeln schlussendlich schon, wenn allein die sanfte Vibration zu spüren ist.

 

Für das Neugeborene haben Tests gezeigt, dass neben Schaukeln und Herztönen auch die Stimme und der Geruch der Mutter erinnert werden. Es kann von Geburt an die menschliche Stimme von anderen Umgebungsgeräuschen unterscheiden und reagiert mit Wohlbefinden auf eine freundliche, sanfte und leicht singende Anrede. Am Beispiel des Saugens zeigt sich das Zusammenspiel von Lernen und instinktgesichertem Verhalten. Die reine Instinkthandlung wird sehr bald zu einem bedingten Reflex, der schon durch ein Vorsignal, etwa wenn das Kind aufgehoben oder ein Lätzchen umgebunden bekommt, ausgelöst wird. Dann lässt es schon die Erwartung mit dem Saugen beginnen. Durch Übung gewinnt es schließlich Sicherheit im Umgang mit der Brust.

 

Die spezifische Erregung, die der Säugling empfindet, etwa sein Hunger, muss von seiner Mutter erkannt und verstanden werden. Hierbei zeigen Neugeborene ein Intonieren und eine charakteristische Mimik, die überall auf der Welt von ihren Müttern beziehungsweise Beobachtern sehr ähnlich interpretiert wird. Es scheint also angeborene Empfindungen und eine sie begleitende Mimik zu geben. Einer der Ersten, der sich mit dieser Frage auseinandersetzte, war Charles Darwin. In seinem eher in Vergessenheit geratenem Werk "Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren" von 1872 deutete er die Übereinstimmung in der Mimik von Menschen und Affen als Stütze für seine Theorie einer Abstammung von gemeinsamen Vorfahren. Dafür galt es ihm nicht nur, die Ähnlichkeit in den Aktivitäten der Gesichtsmuskeln, die Gefühle signalisieren, zwischen Primaten und Menschen herauszustellen. Die äußere Mimik des Menschen, die mit den Gefühlen einhergeht, musste auch als vererbt und angeboren und nicht etwa erst durch Kultur erlernt erwiesen werden. Einen Hinweis dafür fand Darwin bei seinem eigenen Kind. Er berichtete: „Ich achtete auf diesen Punkt bei meinem erstgeborenen Kinde, welches nicht durch den Verkehr mit anderen Kindern gelernt haben konnte, und kam zu der Überzeugung, dass es ein Lächeln verstand und Freude empfand, ein solches zu sehen, es auch durch ein gleiches beantwortete, in einem viel zu frühen Alter, als dass es irgendetwas durch Erfahrung gelernt haben konnte.“

 

Die Beobachtung Darwins gilt heute als bestätigt. Auch blind und taub geborene Kinder zeigen eine solche Mimik und müssen das Lächeln nicht erst durch Erfahrung lernen. In seinem Buch erörterte Darwin die Körpersprache von Gefühlen wie Leiden und Weinen, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung, Freude, Liebe und Andacht, Überlegenheit und Entschlossenheit, Hass und Zorn, Verachtung, Hilflosigkeit und Stolz, Scham und Schüchternheit, indem er auch Beschreibungen über das Ausdrucksverhalten von Naturvölkern heranzog und verglich. Da diese Völker weitgehend unberührt von anderen Kulturen lebten, konnten Gemeinsamkeiten im Ausdruck als angeboren erachtet werden.

 

In den 1960ern wurde die Frage nach genetisch programmierten Affekten durch den amerikanischen Psychologe Silvan Tomkins erneut aufgegriffen. Dieser formulierte eine Theorie von im Gehirn fix eingebauten Grundemotionen. Dabei unterschied er Interesse, das sich bis zur Begeisterung steigern kann, Vergnügen und Freude, Überraschung und Erschrecken, Qual, Wut und Angst.  Diese elementaren Emotionen ordnete er auch den höheren Tieren zu. Zudem nannte er den Ekel und das Gefühl von Scham und Demütigung. Große Popularität erlangte Tomkins Schüler Paul Ekman. Ekman forschte in vielen Studien mit Hilfe von Fotos, die Gesichtsausdrücke darstellen. Da die so präsentierten Emotionen weltweit und kulturübergreifend erkannt wurden, konnte er diese als angeboren postulieren. Seine Grundemotionen sind: Fröhlichkeit, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung. Ekmans Theorie wird von vielen Wissenschaftlern unterstützt. (1) (2)

 

Die Frage nach dem Entstehen von Empathie, Güte und Fürsorglichkeit kann jedoch nicht anhand solcher Untersuchungen geklärt werden. Tomkins erachtete Empathie so wie auch Schuldgefühl, Scham und Peinlichkeit als sekundäre Emotionen, die alle kulturell bedingt seien. Sicher lässt sich der Einfluss der Erziehung für das Entstehen solcher Regungen nicht leugnen. Wieso sollten uns etwa manche Körpergeräusche peinlich sein, hätten wir dies nicht gelernt? Wieso verspeisen wir manche Tiere ohne das geringste Schuldgefühl, nicht aber Hunde und Katzen? Was aber jene Gefühle der Fürsorglichkeit und Empathie betrifft, so haben wir gesehen, dass bereits Primaten einander nicht selten Trost schenken und solch natürliche Empfindungen der Empathie die Menschheit mit Sicherheit in ihrer gesamten Entstehungsgeschichte begleitet haben. Auch liegt der Zusammenhang mit den eigenen frühkindlichen Erfahrungen auf der Hand. In welcher Hinsicht sind diese fürsorglichen Empfindungen also bereits angeboren?

 

 

Autismus

 

In meiner langjährigen beruflichen Betreuungstätigkeit von Menschen mit schwerer kognitiver Beeinträchtigung wurde mir ein Faktum, welches der Fähigkeit zur Fürsorglichkeit zugrunde liegt und soziales Empfinden überhaupt erst ermöglicht, sehr bewusst. Besonders eindringlich zeigt sich die Bedeutung der Disposition nämlich dort, wo die Grundausstattung geschädigt ist. Die Rede ist vom Autismus, dem der folgende Exkurs gelten soll. Autismus meint unter anderem eine ausgeprägte und unheilbare Beeinträchtigung der Fähigkeit zu sozialer Interaktion. Diese Störung möchte ich im Folgenden interpretieren. Dies soll die instinktive und körperliche Ausstattung begreiflich machen, die dem neugeborenen Kind überhaupt ermöglicht, sozial zu empfinden.

 

 Vorab jedoch einige wichtige Feststellungen. Beim Menschen mit Autismus ist die Möglichkeit zu sozialem Empfinden in sehr grundsätzlicher Weise beeinträchtigt. Doch selbstverständlich hat Autismus mit charakterlichen Defiziten, etwa mit Hass und Bösartigkeit, nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil bedeutet Autismus großes Leid für die betroffenen Menschen, woraus sich ein besonderer Anspruch auf Hilfe und Unterstützung ergibt. Zweitens kann Autismus mit erheblicher kognitiver Beeinträchtigung einhergehen, doch ist dies nicht zwingend der Fall. Er kann auch bei normaler oder hoher Intelligenz auftreten. Berichten von Autisten ohne kognitiver Beeinträchtigung ist zu entnehmen, dass sie intensive soziale Wünsche besitzen, Nähe jedoch manchmal aus einem Gefühl der Überforderung vermeiden. Die können viele Defizite, die eine autistische Schädigung mit sich bringt, kompensieren. So möchte die hier vertretene These keine Geringschätzung autistischer Menschen entstehen lassen, sondern lediglich auf eine sehr basale Voraussetzung für unser Empfinden hinweisen. Indem der Autismus von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung nämlich ein bestimmtes basales Defizit zeigt, verdeutlicht er zugleich eine Funktionsweise des „sozialen“ Gehirns. Dies steht auch in Zusammenhang mit einer falschen These, die schon lange wiederlegt ist: Autismus entsteht nicht aufgrund emotionaler Kälte der Mutter, durch lieblose Erziehung oder psychische Traumata: Er entsteht nicht durch Umweltbedingungen. Autismus hat mit Sicherheit eine gehirnorganische Ursache. Vermutlich kann von einer Verursachung im Bereich der Genetik ausgegangen werden, wie die Forschung an eineiigen Zwillingskindern zeigt, wo mit 96prozentiger Wahrscheinlichkeit beide Kinder von Autismus betroffen sind.

 

Betrachten wir zunächst die schwere kognitive Beeinträchtigung. Wir verstehen unter dem menschlichen Geist die gesamte Bandbreite geistiger Fähigkeiten, die außer Denken, Vorstellungs- und Erinnerungsvermögen, Sprachfähigkeit und Selbstreflexion auch Gefühle und Empfindungen beinhaltet. Ebenso lässt sich unsere Wahrnehmung als geistiger Prozess begreifen, denn wir strukturieren unsere Wahrnehmung. Damit ist Folgendes gemeint: Gegenstände der visuellen Wahrnehmung sind zunächst als räumliche Gebilde da, denen wir notfalls ausweichen können. Erfassen wir deren Konturen aufmerksamer, tritt ein Erkennen in Kraft. Wir können etwa einen konkreten Tisch unter der Vielzahl möglicher Tischformen als solchen erkennen, weil wir ein Schema besitzen, das uns beim Betrachten die Konturen des Gegenstands sehr schnell erfassen lässt und diese mit Infos zum möglichen Aussehen eines Tisches abgleicht. Dieser Schematismus hilft uns, Wahrnehmungen einzuordnen.

 

Unser räumliches und zeitliches Erleben und ebenso blitzschnelle kognitive Vorgänge, mit deren Hilfe wir die Welt erfassen, entwickeln sich besonders in der Kindheit. Ein Mensch mit ausgeprägter kognitiver Beeinträchtigung kann seine Wahrnehmungen im Vergleich zu uns zumeist weniger gut ordnen. Aus dem Grad der geistigen Behinderung ergibt sich im Allgemeinen die alltägliche Selbstständigkeit des beeinträchtigten Menschen. Es lässt sich jedoch aus meiner Sicht noch eine weitere Unterscheidung treffen. Wie gesagt wurde, muss Autismus nicht mit einer kognitiven Beeinträchtigung einhergehen. Genauso besteht aber auch nicht für jede kognitive Beeinträchtigung eine zusätzliche autistische Störung. Mit anderen Worten: Menschen können eine kognitive Beeinträchtigung besitzen oder aber sie können eine kognitive Beeinträchtigung und Autismus aufweisen.

 

Diese Unterscheidung meint folgenden Umstand: Menschen mit Beeinträchtigung empfinden selbstverständlich das Bedürfnis nach Zuwendung und Wärme, Gemeinschaft, Freundschaft und Liebe! Gerade stärker beeinträchtigte Menschen zeigen sich augenscheinlich glücklich, sobald sie Zuwendung erfahren! Und aufgrund der Beeinträchtigung sind sie natürlich auf fürsorgliche Zuwendung angewiesen. Sicher zählen die sozialen Freuden zu den größten in ihrem Leben. Begegnen wir dagegen dem kognitiv beeinträchtigten Menschen mit Autismus, erleben wir ein anderes Verhalten und Reagieren. Es scheint so, als würde er kein Bedürfnis nach intimer Nähe mit uns besitzen. Vielleicht empfindet er eine solche intime Nähe als verwirrend und wünscht sich im Kontakt ein ruhiges und distanziertes Verhalten. Er kann nicht mit uns sprechen, doch vermittelt er, eine neutrale Distanz zu schätzen, die keinen zusätzlichen Stress für ihn bedeutet.

 

So bildet das tiefgreifende Fehlen eines Bedürfnisses nach Nähe und Gemeinschaft ein Kriterium für Autismus: Autismus meint eine ausgeprägte und unheilbare Beeinträchtigung der Fähigkeit zu sozialer Interaktion. Frühkindlicher Autismus zeigt sich schon in den ersten Lebensmonaten: Viele Babys mit frühkindlichem Autismus strecken der Mutter nicht die Arme entgegen, um hochgehoben zu werden. Sie lächeln nicht zurück, wenn sie angelächelt werden, und nehmen zu ihren Eltern kaum Blickkontakt auf.

 

Das nicht beeinträchtigte Baby reagiert hingegen mit natürlicher Faszination besonders auf die Augen anderer Menschen. (3) Hierbei zeigt das Lächeln des Säuglings seine natürliche Freude hinsichtlich er gegenseitigen Zuwendung. Dieses freudige Empfinden, welches im Alter von wenigen Monaten ausschließlich im zwischenmenschlichen Kontakt erstmals lächeln lässt, muss vom Kind nicht gelernt werden. Auch taubblind geborene Kinder lächeln automatisch, sie müssen dies nicht erst an anderen Menschen wahrgenommen haben. Es gibt eine angeborene Freude, die dem Lächeln zugrunde liegt. Sie zeigt Menschen als soziale Lebewesen, die von Natur aus emotional und instinktiv auf andere Menschen ausgerichtet sind.

 

Für Menschen mit Autismus gilt diese instinktive Ausrichtung jedoch nicht. Dies ist nach meiner Ansicht gemeint, wenn Autismus als angeborene und unheilbare Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns beschrieben wird. Das autistische Kleinkind und ebenso viele erwachsene Autisten mit geistiger Beeinträchtigung verbinden keine natürliche Freude über den nahen Kontakt mit anderen. Vielleicht können sie auch nicht intuitiv die Mimik eines anderen Menschen erfassen und nicht selbstverständlich darauf reagieren. (4)

 

 

Unsere natürliche Ausrichtung auf unsere Mitmenschen

 

Das Neugeborene ist von Natur aus auf ein menschliches Gegenüber ausgerichtet ist. So ist bereits der Säugling auf das menschliche Gesicht eingestellt. Schon nach wenigen Tagen fixiert er dieses und folgt ihm mit ruckartigen Augenbewegungen. Wenn er ungefähr im dritten Monat zu lächeln beginnt, so zeigt sich darin eine Freude, der ausschließlich dem Anblick von Gesichtern gilt, besonders natürlich jenem der Mutter, nicht aber Dingen oder Situationen. Mit dem Lächeln verbindet das Baby von Anfang an einen freudigen Affekt. Lächeln und freudige Zuwendung gehören zusammen, sie werden zu einem wichtigen Bestandteil des positiven Klimas zwischen Mutter und Kind. Dieses emotionale Wohlbefinden ergibt sich aus der Befriedigung der Bedürfnisse durch die Mutter und aus dem wechselseitigen Austausch von Liebe und Sinnlichkeit, der Grundlage der Mutter-Kind-Bindung.

 

Auch wird das Baby sehr bald zum aktiven Kommunikationspartner für abwechselndes Intonieren und Imitieren und passt dabei sein Sprachverständnis an. Es benutzt sein Vermögen, um nach seiner Mutter zu schreien und seine Freude oder sein Leid kundzutun und streckt seine Arme, wenn es aufgenommen werden will. Dies alles passiert ausschließlich im Sozialkontakt, wo das Kind auf Sprache antwortet. Längst ist bekannt, dass Kinder, die viel Zeit am Körper der Mutter verbringen, wesentlich kürzer schreien und zufriedener sind. Besonders bestätigen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Psychologie, dass die Fürsorge, die wir als Säugling und Kind erfahren, einen entscheidenden Einfluss auf unsere weitere emotionale und psychische Entwicklung hat. Menschen, die als Kinder keine Liebe erfahren, leiden im späteren Leben oft unter einem tiefsitzenden Gefühl der Unsicherheit. Wir können also sagen, dass die Bereitschaft zu liebevoller Zuwendung schon in unserer biologischen Natur angelegt ist, die Entfaltung sozialer Fähigkeiten jedoch hochgradig von unserer frühkindlichen Entwicklung geprägt wird.

 

Freilich können wir uns im späteren Leben weder an die beschriebenen Lernleistungen, noch an die liebevolle Zuwendung, die wir als Säugling erfahren, erinnern. Das autobiografische Gedächtnis, das kontextbezogen an Ereignisse des eigenen Lebens erinnern lässt, ist evolutionär spät entstanden und wahrscheinlich nur dem Menschen eigen. Auch in der individuellen menschlichen Entwicklung bildet es sich spät. Erst mit dem zweiten bis vierten Lebensjahr kommt es zu den ersten Erinnerungsspuren, die uns im späteren Leben noch zur Verfügung stehen. Das emotionale Klima unserer frühen Kindheit kann daher über unsere bewusste Erinnerung keinen Einfluss auf uns und unsere sozialen Fähigkeiten ausüben.

 

Doch haben Forschungen gezeigt, dass die Berührung der Mutter oder einer anderen Pflegeperson in der frühesten Kindheit sogar das physische Wachstum des Gehirns beeinflusst. Zwar ist das neuronale Repertoire vermutlich bereits im embryonalen Lebensstadium ausgebildet, doch ist es wie ein gleichmäßiges, dichtes Netz gestrickt, das Impulse weiterleitet und so Verbindungen, Wege schafft. Mit dem Erleben und Lernen des Kleinkindes häufen sich die Impulse, die bestimmten Bahnen gelten und die Synapsen verstärken sich dort, berichten Neurologen. Nervenzellen, die keine sinnvolle Funktion erlangen, gehen aber zugrunde. Zwar sind die Gehirne aller Menschen in ihrer Grobstruktur ähnlich, im mikroskopischen Bereich sind sie jedoch jeweils in individueller Weise verdrahtet. Die spezifischen Strukturen, die sich im heranwachsenden Gehirn bilden, resultieren also aus kognitiven Anregungen und affektiven Erregungen des Kleinkindes. Als abschlossen gilt dieser Prozess der Strukturierung erst mit der Pubertät. Dann hat sich ein bestimmtes, weitgehend abgeschlossenes Netz gebildet. Tragische Fälle gröbster Vernachlässigung gelten als Beweis, dass kognitive Leistungen wie die Sprachentwicklung im späteren Leben kaum nachgeholt werden können. Folgen extremer Vernachlässigung wirken ähnlich wie schwerer, chronischer Hunger, der in den ärmsten Ländern immer wieder vorkommt. Es kommt zu schweren kognitiven Schäden beim Kleinkind. 

 

Das Erleben des Neugeborenen wird durch angeborene Affekte ebenso wie durch eine natürliche Ausrichtung auf ein menschliches Gegenüber, auf Bindung, bestimmt. Gemeinsam mit Reflexen wie dem Saugreflex schaffen diese Faktoren sein instinktives Verhalten und Reagieren, das zunehmend durch Lernprozesse geformt wird. In kognitiver Hinsicht können wir davon ausgehen, dass das Baby in den ersten Monaten seines Lebens eine grundlegende Unterscheidung trifft: Es lernt zwischen sich selbst und einer Umwelt – das meint in besonderem Maße natürlich die versorgende Person oder Mutter - zu unterscheiden. Diese Unterscheidung findet im Bewusstsein des Säuglings zunehmend statt. Vielleicht ist die mit der Erfahrung der Abwesenheit der Mutter verknüpfte Fantasie von Mutter die früheste Vorstellung überhaupt!

 

Die spezifischen Erregungen, die sein Erleben dabei begleiten, Freude und Genuss ebenso wie Wut und Schrecken, hinterlassen Spuren in seinem sich entwickelnden Geist. Dieses affektive Erleben auf frühkindlichen Ebene schafft somit Prägungen, die vermutlich auch in der späteren Beziehung des Menschen zu sich und zur Welt zum Ausdruck kommen. So wie jedes Tier ist auch der Mensch durch Instinktverhalten in seine Umwelt eingebettet und bedarf der frühkindlichen Geborgenheit, um bleibendes Vertrauen zu entwickeln. Die genussvollen, sicheren und geborgenen Momente ebenso wie die frustrierenden und quälenden Momente, die das Baby erlebt, werden mit der ersten grundlegenden Unterscheidung zwischen sich und Umwelt verknüpft und in die Beziehung, die diesem Anderen gilt, eingeschrieben. Zwar ist der Mensch eine physiologische Frühgeburt, wo die extreme kognitive Lernfähigkeit den Bereich angeborenen Verhaltens bald überlagert, doch bedeutet dies nicht, dass unsere instinktive Ausrichtung dann nicht länger wirksam wäre und sich spurlos auflösen würde. Lebenslang bleiben wir soziale Wesen, die nicht nur rational und emotional, sondern sogar von unserem Wesen her auf andere Menschen ausgerichtet sind.

 

In dieser Hinsicht spricht die Schule der Tiefenpsychologie nach Melanie Klein von Repräsentanzen. Sie betreffen einen affektbesetzten Bereich, der kaum unterscheidbar Beziehung und Beziehungsobjekt, Selbst und Welt meint. Hier waren es besonders die Arbeiten von Melanie Klein, welche die frühesten affektiven Prägungen und die frühen Vorstellungen des Kindes über sich und seine Bezugspersonen für die spätere Beziehungsgestaltung und Persönlichkeitsentwicklung hervorhoben. Als Projektion beeinflussen diese Repräsentanzen das weitere Erleben eines Menschen. Sie erzeugen das Bild von "Mutter", das wir dieser Theorie zufolge tief in uns tragen.

 

Sehr bald führt die kognitive Entwicklung dazu, dass das Kind eine bewusstere Beziehung zur Mutter eingeht, sie nun wirklich als anderen Menschen wahrnimmt. In der Regel gelten seine Vorstellungen nun einer Mutter, die das Kleinkind mit genussvollen, behüteten und liebevollen Momenten in Verbindung bringt. Es besitzt dann eine positive Vorstellung oder Repräsentanz.  Diese positive Repräsentanz gibt ihm von nun an auch dann emotionale Sicherheit, wenn es vor herausfordernden Situationen steht, erleichtert sein Explorationsverhalten und hemmt aggressive und destruktive Impulse. Die Psychoanalyse bezeichnet die gelungene Entwicklung als Integration. Dabei erklärt sie das Grundvertrauen, das wir im späteren Leben, etwa in der so wichtigen Entwicklungsphase der Adoleszenz, brauchen, um mit seelischen Belastungen gut klar zu kommen, als maßgeblich bedingt durch die innere Repräsentanz einer liebevollen und verlässlichen Mutter.

 

Die Theorie der Psychoanalyse entwickelt sich anhand der Behandlung psychischer Störungen. Gilt die grundlegende Entwicklung der Integration als beeinträchtigt, so wird dies als Borderline-Störung bezeichnet. Kennzeichen dieser Störung ist die Neigung, die Wirklichkeit als bedrohlich zu erleben. Im Zusammenwirken mit problematischen späteren Bindungserfahrungen, traumatisierenden Ereignissen wie etwa Missbrauch und Gewalt sowie negativen Einflüssen besonders in der Adoleszenz kann dies zu schweren Störungen der Persönlichkeit führen. Beispielsweise kann eine große Bereitschaft zu Hass und Feindseligkeit entstehen. Dabei wird eine als schwer ertragbar erlebte Wirklichkeit primitiv und zornig gespalten, Menschen werden idealisiert oder entwertet. Schlussendlich kann die Neigung zu Aggression und Gewalt folgen. 

 

 

Soziale und moralische Entwicklung

 

Die soziale Entwicklung eines Menschen lässt sich kaum von seiner moralischen trennen. Im Gegenteil müssen wir festhalten, dass menschliche Wärme und Zuneigung für unser Menschsein von fundamentaler Bedeutung sind. Diese Fürsorglichkeit ist es, die einen Menschen dazu befähigt, auch selbst menschlich zu empfinden, zu denken und zu handeln. Übrigens beendete der bekannte Psychoanalytiker Otto Kernberg einen Vortrag mit den Worten, jede erfolgreiche Therapie einer Persönlichkeitsstörung würde zugleich eine moralische Entwicklung des Patienten bedeuten.

 

Dies steht im Widerspruch zu einer Sichtweise, welche die Quelle der Moral ausschließlich in Kultur und Erziehung verortet und Erziehung zur Moral primär als einen Einfluss auf das vernünftige Denken bestimmt. Es wäre falsch, unsere ursprünglich angelegte menschliche Natur als primär egoistisch zu interpretieren, wie dies etwa der Philosoph Thomas Hobbes zu Beginn der Neuzeit tat. Menschliche Wesenszüge beinhalten von Natur aus fürsorgliche Empfindungen, welche die Grundlage für ein ausgedehnteres Mitgefühl bilden. Mit gutem Grund können wir von dieser Veranlagung nicht absehen. Würden wir nämlich diese Disposition zur Menschlichkeit verlassen, entstünde bloß eine völlig richtungslose Rationalität im Denken. Wenn es aber in Hinsicht auf Mitgefühl darum geht, ein ursprünglich angelegtes Empfinden in sich auszudehnen, dann ist wichtig zu sehen, dass Fürsorglichkeit keine bloße Emotion unter anderen Emotionen ist. Auch wenn mitfühlendes Denken also mit Emotionen zu tun hat, so führt das Bemühen um Mitgefühl nicht zwangsläufig zur Realitätsverfälschung oder Verzerrung und zu keinem Verlust von Selbstkontrolle, wie dies bei aufwühlenden Emotionen wie Zorn der Fall sein kann. Ganz im Gegenteil kann Mitgefühl in Verbindung mit Denken zu einem, von Egozentrik befreiten, weiten Blickwinkel verhelfen. 

 

Unsere Angewiesenheit auf fürsorgliche Liebe endet niemals. Es ist einfach Teil unseres menschlichen Wesens, bei anderen Hilfe und Unterstützung zu suchen, wenn wir im Leben Probleme haben. Die Zuneigung anderer hat lebenslang und bis zum letzten Moment tiefe Bedeutung für uns.

 

 

Anmerkungen

 

(1) Weithin bekannt wurde auch seine Beratungstätigkeit für den amerikanischen CIA, um Agenten zu lernen, Lügen aufzudecken. Die Fernsehserie Lie to me gründet auf seinem Vorbild. Besonders faszinierend ist das Buch Gefühl und Mitgefühl, das Gespräche des berühmten Psychologen mit dem Dalai Lama wiedergibt. Hier berichtet Ekman auch von einer tiefgreifenden Veränderung seiner Persönlichkeit, die aus seiner Begegnung mit dem Dalai Lama hervorging.

 

(2) Sigmund Freud mutmaßte übrigens, dass sich dieses emotionale Geschehen auf einen Lust- und einen Aggressionstrieb rückführen ließe, auf Libido und Thanatos.

 

(3) Tests haben gezeigt, dass sich dieses erste Lächeln auch durch eine Schablone mit schematisch dargestellten Augen als Schlüsselreiz auslösen lässt.

 

(4) Aus Jahrzehnten der Arbeit im Behindertenbereich weiß ich, dass die Betreuung kognitiv beeinträchtigter Menschen mit Autismus häufig eine besondere Herausforderung darstellt. Manche Verhaltensweisen scheinen nur schwer nachvollziehbar. Die Fixierung auf bestimmte Umstände – etwa eine bestimmte Kleiderordnung im Schrank – lässt sich von außen nicht restlos eruieren oder immer berücksichtigen, die stressverursachenden Faktoren können in ihrer Dringlichkeit und inhaltlichen Ausrichtung sehr schwierig zu bestimmen sein. Wir sind in der Betreuung behinderter Menschen selbstverständlich gewohnt, mit unserem Sprechen emotionale Botschaften zu verknüpfen – ja, wir können gar nicht anders. Dazu gehören mitunter auch vorwurfsvolle und wohl auch verärgerte Untertöne, wenn wir ein Verhalten korrigieren möchten. Doch müssen wir zugeben, dass diese Form der angestrebten Interaktion mit Menschen, die kognitiv und autistisch beeinträchtigt sind, häufig wirkungslos bleibt und dazu führen kann, dass sich eine für beide Seiten unangenehme Situation unnötig aufschaukelt und womöglich sogar eskaliert. Denn es ist nicht gewährleistet, dass der kognitiv beeinträchtigte Mensch mit Autismus unsere emotionale Botschaft auch versteht.

 

 

Literatur: 

Schenk-Danzinger: Entwicklungspsychologie ; G&G Verlagsgesellschaft 2006 (2009)