Extreme Armut

 

Auch wenn das Wachstum der Weltbevölkerung nach aller Voraussicht in zwei oder drei Jahrzehnten ein Ende finden wird, so gilt die sich abzeichnende Entwicklung nicht gleichermaßen für alle Regionen der Erde. Gerade in den ärmsten und instabilsten Staaten, wo Bürgerkriege und Hungersnöte herrschen, beispielsweise in Mali, Äthiopien, Somalia oder in der Demokratischen Republik Kongo, ist kein Rückgang der enorm hohen Kinderzahlen zu verzeichnen. Im Durchschnitt haben Frauen in Niger, einem der ärmsten Länder der Erde, zwischen sieben und acht Kinder. Jedes zweite Kind ist stark von Unterernährung betroffen, was zu schwersten Entwicklungsschäden führen kann, die Krankenversorgung ist katastrophal, 80 Prozent der Menschen können nicht lesen und schreiben. (1)

  

Entwicklungsexperten nennen eine Vielzahl von Faktoren, die sich gegenseitig verstärken und zur extremen Armut jener Länder führen. Und selbst wenn wir annehmen, dass die Länder ihre Gewaltkonflikte befrieden werden, HIV und Malaria bezwingen, die Landwirtschaft und Transportwege modernisieren, vorhandene Rohstoffe zum gemeinsamen Wohl vermarkten, rechtsstaatliche Strukturen aufbauen, Eigentum schützen, Kriminalität, religiösen Fanatismus und Korruption eindämmen, Anreize für das Unternehmertum und gegen den Schwarzmarkt schaffen werden, so werden dennoch Jahrzehnte vergehen, bis sich der wirtschaftliche Fortschritt für die Bevölkerung wirklich bemerkbar machen kann. Ohne Entwicklungshilfe, vernünftigem Entgegenkommen bei der Verschuldung, verantwortlich agierenden Konzernen samt global wirksamen Regeln und Standards, fairen Wettbewerbsbedingungen, einem transparenteren internationalen Finanzwesen samt Trockenlegung der Steueroasen, geopolitischem Weitblick einer internationalen Gemeinschaft inklusive Unterstützung für gute regierte Länder, wird all dies nicht zu bewerkstelligen sein. Besonders aber wird die Bevölkerung jener Länder dann noch erheblich größer sein, wenn nichts geschieht. 

  

Kann aber ein so intensives Bevölkerungswachstum eine verbesserte wirtschaftliche Situation für die Zukunft überhaupt zulassen? Wird es nicht vielmehr jene materielle Sicherheit, die es angeblich braucht, um eben das Wachstum der Bevölkerung natürlich zu mindern, zerstören? Erben zwei Söhne einen Acker, so halbiert sich der Ertrag für deren Familien, wenn die Produktivität der Landwirtschaft nicht wächst. Das ist simpel das Problem vieler bäuerlicher Familien in Afrika, so urteilt der Entwicklungsökonom Jeffrey Sachs. Ist das Guthaben an Böden, Vegetation und Grundwasser einmal verbraucht, wächst die Not noch weiter. Extreme Armut schafft zumeist noch extremere Armut; sie ist ein Teufelskreis. Denn um überhaupt die unterste Stufe der wirtschaftlichen Leiter zu erklimmen, braucht es für Transport, Stromversorgung und Bewässerung erspartes Geld. Gesellschaften, die alle finanziellen Mittel für das Notwendigste verbrauchen, können dies nicht leisten. Kommt es aber zu chronischer Armut, führt diese nicht selten zu Konflikten. Untersuchungen, die solche Wechselwirkungen betreffen, sind mit großer Unsicherheit behaftet. Doch scheint der Zusammenhang von Dürreperioden und ethnischen Konflikten und Bürgerkriegen für Afrika südlich der Sahara statistisch unzweifelhaft nachgewiesen. Gewaltkonflikte aber sind die Ursache für Hungerkatastrophen. 

 

Zu alledem existiert in Form des Klimawandels noch eine besondere Bedrohung für jene ärmsten Länder. Denn wenn sich aufgrund des Klimawandels die Niederschlagsmengen südlich der Sahara weiter reduzieren, werden die Bauernfamilien, denen praktisch jede Absicherung fehlt, am stärksten darunter leiden. Auch wenn Klimaexperten keine sicheren Prognosen zu den Auswirkungen des Klimawandels treffen können, ist die Gefährdung aufgrund von Dürre und Wetterkapriolen sehr real.  So bedingt der Klimawandel einen Wettlauf gegen die Zeit. Einmal benötigt Afrika dringend wirtschaftliches Wachstum, damit aber auch fossile Energien, die ein solches Wachstum erst ermöglichen. Zugleich müssen die mit wirtschaftlichem Wachstum verbundenen Kohlendioxid-Emissionen leistbar sein – durch globale Anstrengungen zur Vermeidung von Klimagasen leistbar werden –, um auch für die Menschen Afrikas ein bescheidenes Maß an Wohlstand zu erreichen und eine Negativspirale aus Hoffnungslosigkeit, Wut und Gewalt zu verhindern. 

 

 

Krieg

 

Betrachten wir zuerst allgemeine Relationen zur Gewalt. Die Opferzahlen, die direkt aus Kriegshandlungen folgen, sind gering gegenüber jenen Opferzahlen, die Gewaltkonflikte indirekt bewirken. Denn sie zerstören Ernährungssysteme und Lebensgrundlagen, schaffen Seuchen und treiben Millionen Menschen zur Flucht. Weltweit gefasst werden diese Opferzahlen jedoch übertroffen von jener Zahl an Morden, die ohne Kriegshintergrund, also durch Verbrechen, häusliche und staatliche Brutalität entstehen. Zudem zeigen sich bei den national erfassten Mordraten große Unterschiede, etwa sind sie in europäischen Ländern äußerst niedrig. Insgesamt kommen dem World Health Report zufolge von allen Menschen, die weltweit sterben, zirka zwei Prozent durch Gewalt ums Leben. Aus historischer Sicht ist dies erfreulich. Denn die Gefahr, zum Opfer von Gewalt zu werden, ist über die Jahrhunderte enorm gesunken. Grund dafür sind starke Staaten und Rechtssysteme, die das gewaltsame Austragen von Konflikten unterbinden. 

  

Auch haben sich Kriege und Kriegsopferzahlen, besonders in den letzten Jahrzehnten, drastisch verringert. Einmal gehören solche Raubzüge, die etwa Gold oder Sklaven gelten, sicher der Vergangenheit an. Wie der Historiker Noah Harari bemerkt, wäre es gar nicht sinnvoll, ein einigermaßen entwickeltes Land, dessen Reichtum aus Unternehmen und Industrien besteht, zu überfallen. So führte das globale Wirtschaftswachstum zu komplexen Verflechtungen, multinationalen Konzernen und mehr Wohlstand für einen großen Teil der Menschheit und brachte die Beschränkung der Macht herrschender Eliten. Besonders verantwortlich für den Frieden zeichnet aber die wechselseitige Bedrohung der Großmächte durch atomare Waffen, die, so potentiell vernichtend sie auch ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit einen dritten Weltkrieg verhindert hat. Hinzu kommen eine internationale Gemeinschaft und informierte Öffentlichkeit, die vermutlich manches verhindert oder mit Sanktionen und Gerichten ahndet. 

  

Kriege haben sich aber auch in ihrer Ausformung stark verändert. Heutige Kriege zeigen sich zumeist als unlösbare und chaotische Bürgerkriege in de facto gescheiterten Staaten, wo sich Regierungstruppen, Söldner, Rebellenverbände, ethnische Milizen, Verbrecherbanden und internationale Streitkräfte gegenüber stehen. Lag in früheren Zeiten das Risiko, getötet zu werden, vor allem bei den Soldaten, so gilt in „modernen“ Kriegen das zehnfache Risiko der Zivilbevölkerung. Auch Spitäler oder Hilfsorganisationen gelten als bevorzugte Angriffsziele. Während in vergangenen Zeiten Konfliktparteien solchen Organisationen eventuell den Zugang gestatteten und sie dann auch schützten, müssen diese nun in einem gefährlichen Chaos operieren, wo keine klaren Regeln existieren, da jedes Dorf eine veränderte Situation bieten kann. 

  

Die erheblichste Kriegsgefahr besteht aufgrund von extremer Armut in Afrika, wo zwei Drittel der Länder in den letzten Jahrzehnten Kriege erleiden mussten. Hinzu kommen die sehr instabile Situation im Nahen Osten und in den arabischen Ländern sowie der Syrienkrieg mit seinen hohen Opfer- und Flüchtlingszahlen. Gewaltkonflikte sind die Ursache für Hungerkatastrophen und erwiesenermaßen der Hauptgrund für anhaltenden, schweren Hunger. Wo Krieg herrscht oder vor kurzem beendet wurde, besteht die geringste Ernährungssicherheit. Es hat daher oberste Priorität, das Ausbrechen und Fortbestehen solcher Gewaltkonflikte zu unterbinden. Was aber sind die Ursachen? 

  

Freilich gibt es keine einfache Antwort: Dauernde Misswirtschaft einer korrupten Elite, das politische Denken in ethnischen Kategorien, uralte Ressentiments und Streitigkeiten, religiöser und rassistischer Hass, die Eigendynamik von Gewalt sowie Mächte und Großmächte, die den Konflikt mit Waffen beliefern, manipulieren und den Hass zusätzlich schüren, da sie strategische Interessen verfolgen, bilden ein Geflecht von Ursachen. Naheliegend erscheint jedoch, dass Gewaltkonflikte im Kern zumeist der Verteilung von Ressourcen gelten und sich in Verbindung mit Not und Hunger sehr verschärfen. Es sich also um ökonomische Gründe handelt, die Gewaltkonflikte bedingen und aufrechthalten. So überlegt der Entwicklungsexperte Alex de Waal, ob die anhaltende Dürre in Syrien von 2006 bis 2010 sowie die Misswirtschaft und mangelnde Reaktion der Regierung auf die humanitäre Krise und die steigenden Lebensmittelpreise die Faktoren waren, die im März 2011 die Proteste auslösten. Eine Regierung, die die Ernährung der Bevölkerung nicht sicherstellen kann, verliert rasch das letzte Vertrauen. Auch berichtet Wikipedia von sich kontinuierlich erschöpfenden Erdölvorräten. Erdöl ist Syriens bedeutendster Rohstoff, der bis in die 1990er den größten Teil des Staatshaushalts finanziert hat. Seit 1995 sind die Fördermengen jedoch rückläufig und in wenigen Jahren, nämlich 2020, wird Fachleuten zufolge das Land bereits gezwungen sein, Erdöl zu importieren! Ähnliches gilt für Ruanda, wo zwischen 1989 und 1993 die Preise für Kaffeebohnen, deren Anbau die hauptsächliche Wirtschaftsleistung des Landes ist, um mehr als 50 Prozent einbrachen. Mit der Hungerbedrohung verschärfte sich der rassistische Hass bis zum Völkermord an den Tutsis. Ähnliches gilt für zahlreiche andere Länder Afrikas, wo Jahre der Dürre mit statistischer Signifikanz zu Bürgerkriegen und ethnischen Konflikten führten, wie etwa Raymond Fisman und Edward Miguel in ihrem Buch belegen. (1)

 

 Doch ist die Überlegung, wonach materielle Not die Hauptursache für blutige Gewaltkonflikte, Völkermorde und hohe Verbrechensraten gibt, nicht unumstritten. Die demographische These vom Youth Bulge, dem Überhang junger Männer, stellt dies in Abrede. Demnach führt ein extrem rasches Bevölkerungswachstum zu politischer Instabilität, denn es erwirkt zwangsläufig einen Überhang an jungen Männern, die keinen Platz in der Gesellschaft finden. Wiederholt sich dieses unverhältnismäßige Wachstum an Söhnen über viele Generationen, entsteht ein regelrechter Sprengsatz. Bekannt gemacht wurde die demographische These durch den deutschen Völkermordforscher Gunnar Heinsohn. In seinem Werk „Söhne und Weltmacht“ aus 2003 präsentiert Heinsohn diesen grundlegenden Gedanken zur Entstehung von ethnischen Hass, Kriegstreiberei, hohen Verbrechensraten, Bürgerkriegen und Völkermorden. 

 

Betrachten wir die Überlegung am Beispiel Syrien: Nach dem Ersten Weltkrieg lebten in Syrien etwa 1,5 Millionen Menschen. Im Jahr 1950 betrug die Bevölkerung nach UN-Daten schon 3,4 Millionen. 2010 waren es 20,9 Millionen, womit sich die Bevölkerung in sechs Jahrzehnten versechsfacht hat. An dieser Tatsache setzt dieTheorie an. Was machen Zweit-, Dritt- und Viertgeborene Söhne, die nicht durch Erbfolge zum Vorstand der väterlichen Landwirtschaft werden? Die in landwirtschaftlich geprägten Gesellschaften keine eigene Bewirtschaftung, keinen neuen Bauernhof gründen können, da für Hunderttausende, ja Millionen Bauernhöfe schlicht kein nutzbares Land mehr vorhanden ist? Für die es, wenn sie dann in die Städte ziehen, kaum akzeptable gesellschaftliche Positionen zu erreichen gibt? 

 

Die These vom Youth Bulge ist leicht verständlich. Sie spricht von demographischen Unruhepotentialen, die aufgrund Millionen „überzähliger“ junger Männer entstehen. Natürlich bildet nicht der einmalige Babyboom das Problem, sondern seine Wiederholung über mehrere Generationen und viele Jahrzehnte. Behauptet wird: Wo über lange Zeiträume die Aufstiegsmöglichkeiten für nachströmende Massen junger Männer fast gänzlich fehlen, entstehen äußerst explosive Verhältnisse. Diese gehen von der wachsenden Gewaltbereitschaft junger Männer aus, die von Arbeitslosigkeit und fehlenden Zukunftsaussichten enttäuscht und frustriert sind. So steigt ihre Bereitschaft, sich politischen Revolutionären oder auch Verbrecherbanden anzuschließen (oder, wie in der Vergangenheit üblich, blutige Expansionen zu starten). Für die um Ansehen konkurrierenden Söhne erscheint es nun als Chance, ein Held zu werden. Nach Heinsohn eignen sich solche Kämpfer dann rasch eine passende Ideologie an, sei es der radikale Islamismus, der revolutionäre Marxismus, der fanatische Nationalismus oder andere mit Gewalt verbundene Befreiungsideologien. Politische und gesellschaftliche Verhältnisse, die bis dahin geduldet wurden, werden nun sehr schnell zum Anlass gewaltsamer Auseinandersetzungen.  So stürzen die Länder von Chaos zu Chaos, denn alle Revolutionen, egal welche Motive sie an ihre Fahnen heften, können niemals die Masse der Unzufriedenen und Entfremdeten sättigen. Sie können einem so gewaltigen Überschuss an Bevölkerung keine beruflichen und gesellschaftlichen Perspektiven bieten. Die aber, die immer übrig bleiben, treiben schon die nächste Gewaltwelle an. 

 

Heinsohn meint in kühler, militärischer Diktion, dass extrem jugendreiche Gesellschaften größere Bereitschaft besäßen, ihre Söhne risikoreich einzusetzen, in Schlachten fallen zu sehen. Sie entwickeln nach seiner Ansicht ein anderes Temperament als solche, die einen Mangel haben, an Kinderarmut leiden. Schließlich würde es nicht das Ende für kinderreiche Familien bedeuten, wenn ein Sohn verloren geht. So könnten Millionen junge Männer, die als zweite oder dritte Söhne daheim nirgendwo wirklich gebraucht werden, in die Schlacht geschickt werden. Auch Hassprediger, die den Hass bis zur völligen Eskalation treiben wollen, würden in kinderarmen Gesellschaften weit weniger Gehör finden, stattdessen würden eher Kompromisse mit dem Feind gesucht werden. (1)

 

Zur Bestätigung der Youth-Bulge-Theorie nennt Heinsohn in „Söhne und Weltmacht“ Lateinamerika, dessen Geburtsraten heute rückläufig sind. Doch in grober Näherung verzehnfachte Lateinamerika im vergangenen Jahrhundert seine Bevölkerung. Heinsohn deutet die sehr instabilen politischen Verhältnisse in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts sowie die anhaltend hohen Mordraten als durch den extremen Bevölkerungsschub mitverursacht. (2)

 

 

Entwicklungshilfe

 

Für eine wirksame Bekämpfung der Armut nennen Experten vier Voraussetzung: 

 

  • Die Regierung eines Landes muss motiviert sein, im Interesse aller Menschen zu handeln, und nicht nur im Interesse einer wirtschaftlichen oder politischen Elite. 
  • Das Wirtschaftssystem muss nach den Prinzipien einer verantwortlichen freien Marktwirtschaft ausgerichtet werden.(3)
  • Gesetzliche Regelungen müssen das Unternehmertum fördern. 
  • Freiwillige Familienplanung muss eingeführt werden, um das Bevölkerungswachstum erfolgreich zu verlangsamen. 

  

Eine Möglichkeit, durch Entwicklungshilfe eine ökonomische Verbesserung anzustoßen, liegt in der Vergabe von Mikrokrediten. Diese Hilfe kann zudem vorzugsweise an Frauen gehen, um deren Berufstätigkeit und finanzielle Unabhängigkeit zu fördern. Das Mikrofinanzmodell bietet die Möglichkeit, flexibel auf spezielle Bedürfnisse und Gegebenheiten einzugehen.   Die Weltbank investiert neun Prozent ihrer Ausgaben in derartige Projekte, sodass Mikrokredite inzwischen mehr als 60 Milliarden Dollar Umsatz machen. 

 

Sehen wir uns die Hilfe in Form von Mikrokrediten genauer an. Beispielsweise kann ein solcher Kredit einer Frau, die in einem Entwicklungsland von Hand Kleider näht, die Anschaffung einer Nähmaschine ermöglichen. Indem sie mehr Kleider herstellt, kann diese Frau der Armut entfliehen. Und wenn sie unternehmerisches Talent hat und mehr verkaufen kann, als sie produziert, kann sie weitere Näherinnen beschäftigen, und ihr Wohlstand mehrt sich. Es ist ein einfacher Prozess. Je größer der Maßstab, desto wichtiger werden Fachwissen und Bildung. Unternehmertum kann Menschen zu einem höheren Lebensstandard und finanzieller Unabhängigkeit verhelfen. Doch sind arme Menschen in der Regel nicht kreditwürdig, da sie keine Sicherheiten anzubieten haben. Auch rentieren winzige Kreditsummen für herkömmliche Banken nicht den Aufwand, sodass sie lange Zeit nur über Kredithaie und zu Wucherzinsen erhältlich waren. Diese Aufgabe übernehmen nun Mikrokreditbanken, die aus entwicklungspolitischen Überlegungen ihre Dienstleistung größtenteils Frauen zukommen lassen und dabei versuchen, die Zinsen möglichst niedrig zu halten. So kann etwa die Anschaffung einer Nähmaschine leistbar werden. 

  

Wieso aber soll dies gleichermaßen der Gesellschaft helfen, aus der Armut zu finden? Büßen im zuvor genannten Beispiel nicht andere Näherinnen ihr Einkommen ein, sobald die Frau mit der Nähmaschine mehr Kleider produziert? Gibt es also nur einen Kuchen, der eben unterschiedlich verteilt wird, sodass der Gewinn der einen Unternehmerin zugleich den anderen Frauen etwas wegnimmt?  Die Antwort der Ökonomen lautet, dass der Einsatz neuer Technologien - etwa einer Nähmaschine - die Produktivität erhöht. Indem sodann der Kauf neuer Kleider geringere Kosten verursacht, erhöhen sich der Tauschwert des Geldes und damit der gemeinsame Wohlstand. Es gibt also nicht nur einen Kuchen, der unterschiedlich verteilt wird, sondern Wachstum, das durch Investition, Innovationen und Arbeit entsteht. Daher gelten Kredite, Investitionen und Know-how als wesentliches Düngemittel für das Wachstum einer Wirtschaft. Moderne Kapitalisten führen in aller Regel den Gewinn wieder zurück in ihr Unternehmen, um die Produktivität weiter zu steigern. 

 

Investitionen sind zur Schaffung von Wohlstand notwendig. Deshalb ist es wichtig, den Bedarf an Kapital zu decken, durch Kredite und genauso durch Mikrokredite. Doch natürlich besteht dabei die Gefahr, dass die Arbeiter ausgebeutet werden und arm bleiben, während die Kapitalisten sich bereichern. Denn Profit lässt sich auch durch simple Reduktion der Lohnkosten erzielen. Daher erfordert die freie Marktwirtschaft verantwortliches Handeln von Unternehmern und Regierungen. Kapital sollte dabei ein Mittel zur Schaffung von Freiheit und Wohlstand für alle sein. 

 

In einem weiteren Schritt kann es sodann zu einer Verlagerung des Produktionsstandorts in Länder mit niedrigen Lohnkosten kommen, wie dies im Rahmen der Globalisierung geschieht. Dies bringt dann beispielsweise die Textilindustrie nach Bangladesch, wo heute Millionen Frauen Kleidung für die Menschen in den reichen Ländern nähen.

 

Kleinkredite können über eine singuläre Hilfe hinaus wirksam sein, damit eine Gesellschaft die unterste Stufe der wirtschaftlichen Leiter nehmen kann und die größte Not zu überwindet. Denn Unternehmertum ist die mit Abstand beste Möglichkeit, Menschen zu einem besseren Einkommen zu verhelfen und sie so zu aktiven Teilnehmern an der Wirtschaft zu machen. Hier ist das Projekt Shakti zu nennen, wo der globale Lebensmittel- und Kosmetikhersteller Unilever tausende Inderinnen mit Mikrokrediten und einer kleinen Schulung ausrüstete, damit die Frauen seine Produkte als Kleinstunternehmerinnen in sonst unrentablen Dörfern vertreiben. Van den Muyzenberg beschreibt das Projekt Shakti: „Im Jahr 2006 hatte Unilever das Projekt in 50 000 Dörfern etabliert und beschäftigte mehr als 30 000 Frauen. Bis zum Jahr 2010 will der Konzern 100 000 Unternehmerinnen schaffen und 600 Millionen Menschen in 500 000 Dörfern erreichen.“ 

  

Ein solches Projekt in Indonesien wurde von der Entwicklungshilfeorganisation Oxfam evaluiert. Oxfam kam dabei zum Schluss, dass der insgesamt geschaffene Wert zu zwei Drittel nicht Unilever Indonesien zugutekam, sondern Herstellern, Zulieferern, Zwischenhändlern, Verkäufern und der indonesischen Regierung. Dies ist ein gutes Zeugnis für die Initiative des Weltkonzerns zum beiderseitigen Vorteil. Nur hatte dies nicht automatisch eine Verbesserung der Lebensumstände für die in Armut lebenden Frauen zur Folge. Mikrokredite sind kein Allheilmittel, um Frauen ein gleichberechtigteres, gebildeteres und gesünderes Leben zu ermöglichen. 

 

Multinationale Konzerne kommt für die Zukunft der Menschheit enorme Bedeutung zu. Das Beispiel zeigt, dass sie aufgrund ihrer Wirtschaftsmacht auch Verbesserungen bewirken können. Wenn sich Eigentümer und Manager zu ihrer Verantwortung bekennen, eine engagierte Öffentlichkeit dies unterstützt, lassen sich rasche Fortschritte erzielen. Dies zu fördern und Handelsbedingungen zu schaffen, welche die ärmsten Länder weniger benachteiligen, sowie gute Regierungsführung zu belohnen, ist eine politische Aufgabe. Dass dies keine bloße Träumerei ist, zeigt die von Bill Gates initiierte Giving-Pledge-Bewegung. Dabei erklärten sich bereits über 10 Prozent der US-Milliardäre und weltweit viele Superreiche bereit, einen Großteil ihres Vermögens für wohltätige Zwecke zu spenden. Ebenso bekennen sich international tätige Unternehmen zu einem ethischen Verhaltenscodex, der dann auch in den ärmsten Ländern gelten muss. Wesentlich trägt die engagierte und informierte Öffentlichkeit bei, Unternehmen zu veranlassen, ihre Verantwortung bei sich und der Auswahl ihrer Zulieferer wahrzunehmen. Nachdem im April 2013 bei einem Gebäudeeinsturz in Bangladesch tausende Arbeiterinnen getötet und verletzt worden waren, kam es zum Bangladesch-Abkommen. Dieses Abkommen für Brandschutz und Sicherheit wurde inzwischen von rund 200 Handelskonzerne der Textilbranche unterzeichneten und gilt für etwa die Hälfte der 4000 Textilfabriken. 

 

Um Armut wirksam zu bekämpfen, müssen die Menschen bereit sein, die Landwirtschaft aufzugeben und in die Städte zu ziehen. Denn das größte Elend trifft weltweit die Landbevölkerung. Viele der Ärmsten werden dort zu Slumbewohnern. Dieses Stückchen Land sollten sie als Eigentum erhalten, damit keine Zahlungen eingefordert werden können und Bereitschaft entsteht, dort Strom und Wasser einzuleiten. In den Städten sind Mikrokredite besonders nützlich, wenn sie unternehmerisch eingesetzt werden und Einkommen schaffen. Doch selbst wenn diese Fähigkeit vorhanden ist, können etwa berufsständische Eliten, mangelnde Rechtssicherheit und ein riesiges Beamtenheer, das überall die Hand aufhält, jede wirtschaftliche Entfaltung sabotieren.  

 

Was das Schicksal der Frauen angeht, sind es auch kulturelle und religiöse Normen, die die Gleichberechtigung blockieren und dem weiblichen Teil der Gesellschaft wirtschaftliche Rechte und das Recht auf Bildung vorenthalten. Die Ökonomin Esther Duflo, die eine überaus kritische Sicht auf die Mikrokredithilfe vertritt, gelangt zu einer aufschlussreichen Beobachtung. Nachdem die indische Regierung im Sinne einer Frauenquote zufällig ausgewählten Dörfern Frauen als Chefs verordnet hatte, konnten diese Dörfer mit anderen, ebenso zufällig ausgewählten, verglichen werden. Die Studie kam dabei zum Schluss, dass 

  • Frauen-Chefs sich mehr um die Belange von Frauen kümmerten, 
  • vielerorts die bessere Politik machten, 
  • sich in jenen Dörfern die Einstellung zu Frauen deutlich verbesserte, auch unter den Männern. 

Die Entwicklungshilfe versucht mit ihren Geldern neben der Katastrophenhilfe auch Gesundheitsversorgung, Bildung und Gleichberechtigung zu unterstützen und entsprechende Maßnahmen auf lokaler und nationaler Ebene durchzuführen. (3)

 

 

 

Anhang: Welternährung und Fleischkonsum

Ökonomen zufolge dürfen wir berechtigt hoffen, dass die Ernährungsfrage lösbar ist. Dabei kommt dem Konsum von Fleisch große Bedeutung zu. Abgesehen von ethischen Implikationen lässt sich das globale Ausmaß an Fleischkonsum auch in Hinblick auf das Wohlergehen der Menschheit nicht rechtfertigen. Denn mit dem wirtschaftlichen Aufstieg nähern sich auch viele der erfolgreichen Schwellenländer der westlichen Ernährung an. Beispielsweise haben die Menschen in China ihren durchschnittlichen Fleischkonsum pro Kopf in den vergangenen Jahrzehnten versechsfacht, dies bei einer Verdoppelung der Bevölkerung. Wie der Weltagrarbericht schreibt, hat sich die weltweite Fleischproduktion in den vergangenen 50 Jahren gut vervierfacht. 

  

Der schrankenlose Fleischkonsum führt zu gravierenden Problemen. Einmal ist die Landwirtschaft mit 30 Prozent an der weltweiten Emission von Klimagasen beteiligt, wovon die Hälfte allein der Produktion von 150 Milliarden Stück Vieh zugeschrieben wird. Die Tiere emittieren die Klimagase Methan und Ammoniak aus Gülle und Mist. Besonders aber braucht es für die industrielle, nicht mehr an Weide gebundene Herstellung von Fleisch, Milch und Eiern ein Vielfaches an Futtermittelkalorien in Form von Getreide und Soja, das energieintensiv angebaut werden muss. 

  

Die Fleischproduktion ist daher eine sehr ineffiziente Weise, Nahrungskalorien und Eiweiß zu erzeugen. Da die Tiere, um schnell an Gewicht zu gewinnen, Getreide zu fressen bekommen, gehen etwa über die Rinderernährung Nahrungskalorien im Verhältnis 1:7 verloren. So wird ein Vielfaches an Wasser und Ackerland gegenüber einer pflanzlichen Ernährung verbraucht. Agrarflächen sind jedoch eine global äußerst begrenzte Ressource. Zudem ist die Produktivität der Landwirtschaft nicht nur durch verfügbares Ackerland, sondern auch durch das regional verfügbare Süßwasser begrenzt. Klimawandel und Übernutzung des Grundwassers führen dazu, dass ganze Ökosysteme austrocknen. Zusätzlich belastet die Landwirtschaft die Gewässer mit Pestiziden und enormen Stickstoffmengen. Verschmutzung, Vergiftung und Überdüngung des Trinkwassers haben schon heute massiv schädigende Auswirkungen auf den in Armut lebenden Teil der Menschheit. 

  

Der Weltagrarbericht urteilt mit klaren Worten: „Auch wenn der Weltagrarbericht zum Konsumverhalten keine Empfehlung abgibt, lassen seine Ergebnisse nur einen Schluss zu: Die Reduzierung des Verbrauchs von Fleisch und anderen tierischen Produkten in Industriestaaten und ihre Begrenzung in den Schwellenländern ist der dringendste und effektivste Schritt zur Sicherung der Ernährung, der natürlichen Ressourcen und des Klimas. (…) Dies täte übrigens nicht nur unserer Gesundheit, der Lebensmittelsicherheit und der Umwelt gut. Der respektvollere Umgang mit Nutztieren, der in einem grotesken Gegensatz zu unserem Verhältnis zu Haustieren steht, wäre dem Wohlergehen der Tiere zuträglich, aber auch unserer eigenen Selbstachtung. Wir müssten beim Griff ins Kühlregal nicht mehr unerträgliche Zustände in modernen Fleischfabriken verdrängen, nicht die Vernichtung von Wäldern, Tier und Pflanzenarten, nicht die Aufheizung des Klimas und auch nicht den mit dem Fleischwahn einhergehenden Ruin gewachsener ländlicher Räume und bäuerlicher Existenzen.“ 

 

 

Anmerkungen

 

(1) Hier lässt sich die Ukraine als Beispiel nennen, wo Anfang 2020 die 21. Vereinbarung eines Waffenstillstands stattfand.

 

(2) Heinsohn gelangt zu einem überaus prekären Schluss. Er meint: „Die Dynamik eines Youth Bulge resultiert nicht aus Nahrungsmangel, ein jüngerer Bruder kann als Knecht des Erbsohnes durchaus satt werden, doch sucht er nach einer Position, die ihm Ansehen, Einfluss und Würde gibt. Verlierer und Deklassierte, nicht Untergewichtige, drängen nach vorne. (…) Je erfolgreicher der Kampf gegen Hunger und Analphabetentum verläuft, desto kampfeslustiger werden die nach oben strebenden jungen Männer.“

 

(3) Ein Grund, weshalb die freie Marktwirtschaft in der Vergangenheit mehr Wohlstand als die politisch geplante Wirtschaft erwirtschaften konnte, liegt vermutlich am Informationsfluss. Um wirtschaftliche Entscheidungen zu planen, musste der Beamte beispielsweise mit Mitarbeitern am Land telefonieren und diesen Informationen, die aber vielleicht Eigeninteresse oder wenig Kompetenz enthielten, vertrauen. Dagegen sind in der freien Wirtschaft zahllose Unternehmer damit beschäftigt, Bedürfnisse ihrer Kunden zu erkennen, um wirtschaftlich zu überleben. Aufgrund der Revolution in der Informationstechnologie hat sich diese Voraussetzung grundlegend geändert. 

 

 

Literatur: 

Gunnar Heinsohn: Söhne und Weltmacht ; Piper 2008

Jeffery D. Sachs: Das Ende der Armut ; Pantheon 2006

Dambisa Moya: Dead Aid ; Haffmans & Tolkemitt 2011

Raymond Fisman, Edward Miguel: Economic Gangsters ; Campus 2009

www.weltagrarbericht.de

Dalai Lama, van den Muizenberg: Führen, gestalten, bewegen ; Campus 2008

Alex De Waal: Hunger und bewaffnete Konflikte ; 2015