Nationalsozialismus

 

 

Ist es tatsächlich die Aufgabe von Ethik, vor Moral zu warnen, wie Luhmann pointiert meinte? Die Auseinandersetzung mit dem deutsch-österreichischen Nationalsozialismus soll helfen, die Aufgabe von Ethik zu klären. Denn über das unfassbare Geschehen des Holocausts sind wir gut informiert. Wieso konnte die faschistische Ideologie eine solche Überzeugungskraft entwickeln? Lässt sich der Faschismus in Anschluss an Luhmanns Kritik als Prototyp eines infektiösen Moralisierens, das zur mörderischen Epidemie gerät, interpretieren? Darf man im Zusammenhang mit Nationalsozialismus überhaupt von Moral sprechen? Niklas Luhmann definierte Moral empirisch als ein Verteilen von Achtung/Missachtung und sprach ihr kaum eine konstruktive Funktion für eine moderne Gesellschaft zu. Der Nationalsozialismus zeigt das verheerende Potential von Missachtung und Entwertung. Aus einer vollkommen neutralen Perspektive war der Nationalsozialismus daher eine „moralische“ Ideologie, weil er in extremen Maße mit Achtung und Missachtung operierte und dies zudem weltanschaulich begründete.

 

Auch viele Intellektuelle wie beispielsweise der bedeutende Philosoph Martin Heidegger wurden Anfang der 1930er von echter Begeisterung für den Nationalsozialismus erfasst. Sicher spielten beruflicher Opportunismus und Beweggründe wie etwa die Ablehnung von Kommunismus und Kapitalismus eine Rolle. Die echte Begeisterung hatte jedoch mit der Person des Führers, Adolf Hitler, sowie der immensen Kraft eines Gemeinschaftsgeists, der mit einem Mal durch Deutschland ging, zu tun. Deutschland erfuhr, teilweise durch die Rüstungsindustrie bedingt, einen starken wirtschaftlichen Aufschwung. Gegenseitige Achtung und Selbstachtung aufgrund der Identifikation mit der eigenen Nation, Deutschland, sowie der Rasse, der man sich zugehörig fühlte, schufen eine Welle erhabener und stolzer,  nationaler, vielleicht sogar moralischer Gefühle. Thomas Mann äußerte im Rückblick zu den frühen 30ern: „Man soll nicht vergessen und sich nicht ausreden lassen, dass der Nationalsozialismus eine enthusiastische, funkensprühende Revolution, eine deutsche Volksbewegung mit einer ungeheuren seelischen Investierung von Glauben und Begeisterung war.“ (1)

 

Worin besteht jene "andere Moral" des Nationalsozialismus? Ideologisch fußt der Nationalsozialismus auf dem Sozialdarwinismus, welcher im Geschehen der Evolution lediglich Grausamkeit und das Durchsetzen des Stärkeren in Hinsicht auf Völker und "Rassen" erkennt. Grundprinzip ist der Wille zur Macht. In seinem in den 1920ern publizierten Werk „Mein Kampf“ schreibt Hitler: „Wer den Nationalsozialismus nur als politische Bewegung versteht, weiß fast nichts von ihm. Er ist mehr noch als Religion: er ist der Wille zur neuen Menschenschöpfung.“ So schwärmt Hitler in poetischen Bildern von der Größe einer besonderen Rasse, den Arien. Damit diese Gottmenschen zur Herrschaft gelangen können, müssen sie vor rassischer Verunreinigung geschützt werden. Auch braucht es mehr Lebensraum, den es kriegerisch zu erobern gilt. Hitler: „Am Ende siegt ewig nur die Sucht der Selbsterhaltung. Unter ihr schmilzt die sogenannte Humanität als Ausdruck einer Mischung von Dummheit, Feigheit und eingebildeter Besserwisserei wie Schnee in der Märzsonne. Im ewigen Kampf ist die Menschheit groß geworden – im ewigen Frieden geht sie zugrunde.“

 

Bekanntlich besitzt die „arische Lichtgestalt“ einen „teuflischen Widersacher“: die Juden. Sie verkörpern das lebenszersetzende Prinzip schlechthin, sind Bazillen, eine krankheitserregende Aussaat. Wenn man diesen Krankheitskeim nicht austilgt, so wird das höhere Leben schließlich daran zugrunde gehen. Hitler spricht von einer geschichtlich entscheidenden Phase – es droht der Untergang des Abendlandes. Was lastet Hitler den Juden an?

 

  • Einmal sind es Werte wie Familiensinn, Vaterland, Volk und Gehorsam, die er durch jüdischen Einfluss in Gefahr sieht. Werte, die letztlich der Kampfkraft dienen sollen.
  • Es ist die globale Entwicklung der Wirtschaft zu Kommunismus beziehungsweise Kapitalismus, die Hitler als Geldgesinnung, welche den Geist verdrängt, versteht. So habe das materielle Denken Russland und Nordamerika unter kommunistischer/kapitalistischer Ideologie bereits geknechtet. Schuld daran seien die Juden – Hitler halluziniert aus der Tatsache, dass Juden in sämtlichen Bereichen, wo talentierte Menschen gefragt sind, überproportional vertreten waren, eine jüdische Weltverschwörung.
  • Darüber hinaus fasst Hitler das Jüdische als ein moralisches Prinzip, welches er vernichten will.  

 

Welches Prinzip hasste Hitler so sehr? Seine Fantasie galt einem Prinzip, das vom Judentum ausgehend zur Kernaussage christlicher Ethik wurde. Die Rede ist vom Prinzip der Nächstenliebe, insbesondere jedoch vom Tötungsverbot, dem sechste Gebot vom Berg Sinai. Mit Blick auf Thesen, die der deutsche Soziologe Gunnar Heinsohn vertritt, lässt sich sagen: Hitler und dem Nationalsozialismus ging es um eine Umwälzung der Moral und geistigen Orientierung der Menschen, wie sie die jüdisch-christliche Religion geschaffen hatte, hin zu grausamen Geboten, die Hitler als ursprünglicher unterstellte. (2)(3)

 

Hitler wollte das Tötungsverbot nicht nur im Einzelfall übertreten, sondern er wollte es systematisch überwinden. Er wollte das moralische Recht, um Völker ausrotten und alle aus seiner Sicht Minderwertigen morden zu können. Die Moral der bedingungslosen Nächstenliebe musste vernichtet werden, um die anderen geplanten und dann auch verwirklichten Mordaktionen großen Stils in den Ostgebieten, die ethnischen Säuberungen, möglich zu machen und den aus nationalsozialistischer Sicht notwendigen Lebensraum für die arische Rasse zu schaffen. 

  

Das für Hitler wohl verabscheuungswürdigste geistige Prinzip war demnach das jüdische Prinzip der Nächstenliebe. Indem jenes die Verpflichtung schafft, Notleidenden zu helfen, ist es sozialdarwinistischer Grausamkeit radikal entgegengestellt. Und indem es danach trachtet, Hass und Feindschaft zu überwinden, widersetzt es sich der Kampfbereitschaft. Das Gebot wird im Abschnitt „Christliche Ethik“ behandelt. Fraglos ist die christliche Soziallehre das Resultat einer geistigen Entwicklung im Judentum. Sie konnte allein darum Verbreitung finden, weil die notwendige Sensibilität für Ethik schon vorhanden war und die Lehre Zuspruch fand. Folgen wir Gunnar Heinsohns These, so wollte der Faschismus die Moral der Nächstenliebe derart vernichten, indem er einmal ihre „Erfinder“ und „Träger“, die Juden, physisch ausrottete. Dagegen war die christliche Moral der innere Feind, dessen Zerstörung nur innerhalb der Religion, der alle Deutschen angehörten, möglich war. Darin war die nationalsozialistische Bewegung unterschiedlich erfolgreich. Ein trauriges Beispiel geben die Richtlinien der Deutschen Christen von 1932. Dort heißt es: „Wir wissen etwas von der christlichen Pflicht und Liebe den Hilflosen gegenüber, wir fordern aber auch Schutz des Volkes vor den Untüchtigen und Minderwertigen.“

 

Die grauenhaften Folgen in Form teilweise industrialisierter Morde mit Millionen Opfern sind bekannt. Aber ist Hitler die böse Macht, die für alle Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs verantwortlich war? Sicher kann es nicht ausreichen, die Verbrechen des Nationalsozialismus allein der Person Adolf Hitler anlasten zu wollen. Dies hieße die Verantwortung des deutschen und österreichischen Volkes und die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen vor und während der Nazizeit schlicht zu ignorieren.

 

 

Spaltung

 

Sicher ist der Faschismus das Extrembeispiel einer Ideologie der Verachtung. Er taugt nicht dafür, sämtliche Eskalationen von Gewalt zu erklären. Wirtschaftliche und größte Not, politische Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung, der Kampf um Ressourcen, historische Gründe, diplomatisches Versagen, Propaganda und Großmachtsinteressen, die Eigendynamik der Armut, des Hungerns und die fortschreitende Verrohung durch Gewalt, ebenso Rüstungsindustrie und Machtlosigkeit der UNO spielen bei mutwilligen Kriegen und Bürgerkriegen oftmals eine wichtige Rolle. 

 

Aber dennoch: Das unversöhnliche Schematisieren der Menschen in Freund und Feind und die Infektion der Gesellschaft mit paranoidem Hass sind überall beteiligt. Aus bestimmter Perspektive scheint dies die Schattenseite des Gemeinschaftsgefühls, dem doch grundsätzlich eine so positive Kraft innewohnt. Es bildet sich aus fürsorglichen Gefühlen für diejenigen, die uns nahestehen und weitet sich dann auf die Menschen, die mit uns im selben Ort wohnen, dieselbe Sprache sprechen oder denselben Glauben haben. Es verbindet Menschen und hilft, über das begrenzte Eigeninteresse hinauszugehen. 

 

Ein Vergleich mit dem modernen Versicherungswesen, den der Ökonom Paul Collier erdacht hat, ist aufschlussreich. Versicherungen können nur dann funktionieren, wenn die Zahl der Trittbrettfahrer, d.h. Menschen, die Versicherungen nutzen ohne eine Gegenleistung zu erbringen, gering ist. Um dieses Problem zu umgehen, gibt es etwa die Versicherungspflicht für alle Arbeitnehmer. Ähnlich verhält es sich mit der Zugehörigkeit zur Sippe, Ethnie und schließlich Nation, worin der Einzelne durch anderen Mitglieder der Gemeinschaft Hilfe erfährt: Auch hier kann man sich die Zugehörigkeit in der Regel nicht aussuchen. Dieses motivierende Gemeinschaftsgefühl behutsam zu erweitern ist ein schwieriger, jedoch notweniger Prozess, um Wirtschaft und Umweltschutz zu fördern und den Frieden zu sichern.

 

Wo liegt die Gefahr, die das Gemeinschaftsgefühl in sich birgt? Mit jenen familiären, sozialen, nationalen, sprachlichen oder religiösen Sympathien geht oft eine erhöhte Unterscheidung zwischen „uns“ und „ihnen“ einher. Damit kann das natürliche Gemeinschaftsgefühl eine sehr problematische Wendung nehmen. Denn wir laufen Gefahr, unsere umfassendere Identität als Menschen zu vergessen, wenn wir uns ausschließlich über diese oder jene Gruppe definieren. Die Unterscheidung zwischen „uns“ und „ihnen“ kann unter Umständen zum Hass führen. Dabei wird die eigene Gruppe als ideal betrachtet und alles Negative nach außen projiziert. Besonders in einer bedrohlichen Wirtschaftslage, als Folge von Verarmung, bei hoher Arbeitslosigkeit und dem Fehlen von Perspektiven entstehen dann: 

  • abwertende Stereotypisierungen und Klischeevorstellungen über jene anderen 
  • ein Denken von Überlegenheit und Unterlegenheit 
  • alle Ursachen der Not werden der minderwertigen Gruppe zugeschrieben 
  • die politische oder religiöse Propaganda schürt den Hass und die Feindschaft noch zusätzlich 
  • die vernünftigen Kräften werden als unpatriotisch bzw. ungläubig diffamiert 

So werden Menschen oder ganze Ethnien, Nationen, Religionen als potenziell böse, hasserfüllt, schlecht, nicht vertrauenswürdig gesehen. Schlussendlich können daraus Situationen erwachsen, wo Wut- und Hassausbrüche bis zum Angriff auf andere gerechtfertigt erscheinen, weil es ja vermeintlich immer die Feinde waren, die zuerst beleidigt, verletzt oder angegriffen hätten. Aus der Sicht der Psychoanalyse entspricht eine solche Transformation im gesellschaftlichen Denken einer paranoiden Entwicklung. Diese geht mit einer großen Bereitschaft zum Hass einher, der allerdings verleugnet und auf den Feind projiziert wird. Otto Kernberg beschreibt die Haltung großer Teile der Bevölkerung im Nationalsozialismus: „Wir folgen dem Führer, wir sind Brüder, wir lieben uns alle und der Feind ist draußen, und wenn wir ihn zerstören, ist die Welt wieder perfekt.“ 

 

Der hassgetriebene Fanatiker Hitler beabsichtigte und befahl den Genozid. Geplant und logistisch umgesetzt wurde er aber von einem gänzlich anderen Typus: Adolf Eichmann. Betrachten wir nun einen Aspekt, auf den Hannah Arendt aufmerksam gemacht hat. 

 

Adolf Eichmann

 

Fanatische Hassprediger wie Adolf Hitler bilden eine große Gefahr, vor der die Gesellschaft zu schützen ist. Im Zuge der Aufarbeitung des Nationalsozialismus wurden auch die Filmdokumente vom Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der 1961 in Jerusalem stattfand, berühmt. Denn der Prozess gegen Eichmann wurde im Fernsehen übertragen und damals wie heute kann man sich ein Bild von jenem Menschen machen, der dort hinter Sicherheitsglas saß. Dabei wird deutlich: Der Charakter dieses Mannes geht uns alle an! Denn Eichmann wurde übereinstimmend als Mensch von bestürzender Normalität wahrgenommen. 

 

In den Kriegsjahren war es Eichmanns Funktion, die Abtransporte in die Vernichtungslager zu organisieren. Nach Kriegsende flüchtete er nach Argentinien, wo er 1960 vom israelischen Geheimdienst aufgespürt wurde. Im Prozess in Jerusalem präsentierte sich Eichmann dann als weit entfernt davon, ein von Judenhass und persönlicher Mordlust getriebener Fanatiker zu sein, beziehungsweise gewesen zu sein. Zeugen bestätigten, dass Eichmann, als es noch lediglich um die Vertreibung und Enteignung der Juden ging, sich tagtäglich deren Anliegen mit Interesse angehört habe. Mit der kriegerischen Ausdehnung des Deutschen Reichs wurden die Methoden, Millionen europäische Juden zu beseitigen, immer bestialischer und der Massenmord zur beschlossenen Sache. Ab 1941 plante Eichmann die Abtransporte in die Konzentrationslager zwecks maximaler Ausrottung mit psychologischer Raffinesse: Es galt hunderttausende Opfer bis zu ihrer industriellen Ermordung ruhig zu halten. Eichmanns schlichte Rechtfertigung im Prozess lautete, auf höherem Befehl und aus Pflichterfüllung gehandelt zu haben. Er hätte bloß seine dienstliche Funktion sachlich und bürokratisch einwandfrei erfüllt. Überhaupt wäre seine Angelegenheit lediglich der Transport gewesen, mit dem millionenfachen Mord habe er gar nichts zu tun gehabt. Die Filmdokumente zeigen einen Mann, der von dem, was er zu seiner Verteidigung vorbringt, tatsächlich überzeugt war! 

 

Befehlsgemäß hatte Eichmann die Vernichtungslager auch besichtigen müssen: „Ich wurde in der Folgezeit nach Treblinka, nach Minsk und nach Lemberg, nach Auschwitz geschickt. Und wenn sich heute noch nach so langen Jahren die Feder schier sträubt dies nieder zu legen und mich heute noch eine innere Erregung packt, wenn ich die Bilder vor mir sehe (...): Leichen, Leichen, Leichen. Erschossene, Vergaste, Leichen die im Verbrennungsstadium waren und Blutfontänen, die aus den Massengräbern nach oben drückten. Ein Inferno, eine Hölle und ich wusste oft nicht, bin ich schon wahnsinnig oder ist es doch alles nicht wahr. Seit dieser Zeit habe ich ein nervöses Zucken im Gesicht, bis auf den heutigen Tag zurückbehalten. Ich sagte einmal zu Hoeß, wie es nur möglich wäre, dass Menschen so etwas physisch aushalten, der bloße Anblick mache mich völlig fertig.“  

 

Eichmann mordete nicht persönlich, sondern beging sein gigantisches Verbrechen vom Schreibtisch aus. Er betrachtete sich stolz als Experten für eine äußerst komplexe Materie, zugleich aber nur als ein kleines Rädchen im Getriebe, dem keine Verantwortung zukäme.  Sein Morden geschah auch nicht mit fanatischem Hass, sondern mit extremer Gefühlskälte. Erst der Anblick des abscheulichen Leides, das er verursachte, irritierte ihn dann doch. Im Prozess schilderte er, wie einer Mutter das Kind „vom Arm weggeschossen wurde“. Auch hier gelang es ihm perfekt, jedes Schuldgefühl von sich zu weisen: „Ich kam in Kontakt wider meinem Willen, ich musste gehorchen, ich hatte es zu tun, mehr kann ich dazu nicht sagen.“ 

  

Das Urteil für Eichmann lautete auf Tod durch den Strang. Im Anschluss an jenen Prozess begannen intensive Bemühungen, um zu verstehen. Das bekannte und vielfach in verschiedenen Ländern wiederholte Experiment von Stanley Milgram brachte schließlich die erschreckende Wahrheit: In einer Situation, wo Moral und Gehorsam in Konflikt treten, setzt sich der Gehorsam gegenüber dem Gewissen durch. Bereits relativ harmlose Umstände können dazu führen, dass wir Entsetzliches tun, einfach weil es befohlen wurde. Allerdings zeigten jene Tests ebenso, dass die Probanden in überwiegender Zahl unter Gewissenskonflikten litten. Die Menschen begannen während der Tests zu schwitzen, hysterisch zu lachen und verloren ihr Selbstvertrauen. 

 

Können wir im  „Typ Eichmann“ einfach nur einen Beamten sehen, der, um seine Karriere besorgt, die Befehle seiner Vorgesetzten entgegennimmt, diensteifrig erfüllt und passende Befehle weitergibt? Ein moralisch indifferentes, gehorsames und nur auf das eigene Fortkommen bedachtes Handeln wird allerdings nicht erst im Zusammenhang mit einer verbrecherischen Ideologie zum Problem. Moralische Gleichgültigkeit ist auch ein Problem der globalen Wirtschaft, das insbesondere die ärmsten Länder betrifft. (4)

 

 

Rassismus 

 

Im Nationalsozialismus "bewiesen" Wissenschaftler mit anerkannten wissenschaftlichen Methoden die Überlegenheit der arischen Rasse. Eine solche Rassentheorie ist durch moderne genetische Forschung widerlegt. Es gilt als erwiesen, dass der gemeinsame Ursprung unserer Art in Ostafrika liegt. Die Varianz des afrikanischen Erbguts ist allerdings wesentlich größer als anderswo auf der Welt. Daher lassen sich Gründerpopulationen annehmen, die beginnend vor etwa 50 000 Jahren von Ostafrika aus alle Teile der Welt, Europa, Asien, Amerika und Australien besiedelten und ihren speziellen Genpool verbreiteten. (5)

 

Zwar besaßen die Menschen der vergangenen Jahrtausende keine Möglichkeit zu großer Mobilität, doch war Generation für Generation der Jäger und Sammler in permanenter Bewegung. Populationen spalteten sich auf, verloren den Kontakt zueinander und entwickelten sich getrennt, sodass nicht nur zwischen einzelnen Menschen, sondern auch zwischen Populationen typische, im Verhältnis allerdings geringe, Unterschiede zu finden sind. Ein solches ersichtliches Phänomen betrifft die Färbung der Haut: Während dunkle Haut besser vor intensiver UV-Strahlung schützt, sichert helle Haut bei geringer Sonneneinstrahlung die ausreichende Versorgung mit Vitamin D. Dieser an Populationen sichtbare Unterschied in der Pigmentierung ist das Resultat evolutionärer Mechanismen. Ein weiteres Beispiel betrifft die Errungenschaft der Lactosetoleranz, die bei Nordeuropäern viel weiter verbreitet ist als bei südlichen Menschen. (6)

 

Heute lässt sich anhand der DNA-Analyse von archäologischen Funden menschlicher Skelette und von heute lebenden Menschen nachvollziehen, woher ihre Vorfahren kommen und zu welcher ursprünglichen Population eine genetische Verwandtschaft besteht. Beispielsweise brachten vor tausenden Jahren Menschen aus Anatolien die Landwirtschaft und verdrängten die alteingesessene Population von Wildbeutern. Aufgrund der historischen Wanderdynamik zeigt sich, dass heutige Europäer jeweils Einflüsse aus allen Regionen Europas besitzen. 

 

Diese in Jahrtausenden gebildeten körperlichen Unterschiede zwischen Populationen werden nach wie vor für Spekulationen zur Kulturgeschichte, zu Intelligenz und Charakter benutzt. Dies jedoch, ohne wissenschaftliche Belege zu liefern. Fachleute sprechen dagegen nicht von „angeborenen psychischen Eigenschaften“, da sich gerade solche aus der Mischung von äußeren Einflüssen, Anlagen und freier Persönlichkeitsentwicklung individuell herausbilden. Auch der genetische Einfluss auf die Intelligenz eines Menschen ist nicht wissenschaftlich geklärt. In allen Gesellschaften gibt es sehr unterschiedlich intelligente Menschen, doch findet sich bis heute nirgendwo eine spezifische Häufung von Genen, die einen Rückschluss auf besondere Intelligenz dieser Population erlauben würde. Dagegen schneiden Europäer bei Intelligenz-Tests wesentlich besser als vor 50 Jahren ab, was den Einfluss von Sozialisierung und Bildung bestätigt. 

 

Sozialdarwinistischen Ansichten gegenüber sollte uns Charles Darwins eigene, tief empfundene Menschlichkeit und humanistische Überzeugung ein Vorbild sein. Darwin empfand für den Rassismus nur Hass und Verachtung. 1833, während seiner Weltreise, schrieb er an seine Schwester: „Ehe ich England verließ, wurde mir gesagt, alle meine Ansichten würden sich ändern, sobald ich in Sklavenländern gelebt hätte; die einzige Änderung, derer ich mir bewusst bin, ist, dass ich den Charakter der Neger viel höher schätzen gelernt habe.“ In einem weiteren Brief nennt Darwin die Sklaverei einen „monströsen Schandfleck auf unserer gerühmten Freiheit“ und fährt fort: „Ich habe genug von der Sklaverei und den Anlagen der Neger gesehen, um gründlich von den Lügen und dem Unsinn angewidert zu werden, den man über diese Angelegenheit in England hört.“ Mit zorniger Empörung äußert er sich über Grausamkeiten, die er hatte ansehen müssen: „Und diese Handlungen werden von Leuten ausgeführt und verteidigt, die bekennen, ihren Nächsten wie sich selbst zu lieben (…). Es macht unser Blut aufwallen und unser Herz erzittern, wenn wir bedenken, dass wir Engländer (…) so schuldbeladen waren und noch sind.“

 

Auch in heutiger Zeit gibt es Rassismus. Menschen erfahren aufgrund körperlicher oder kulturell zugeschriebener Merkmale Benachteiligung am Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Im Alltag erleben sie Situationen, wo Verachtung und Gehässigkeit spürbar wird. Dies betrifft besonders Migranten und Flüchtende aus dem arabischen und afrikanischen Raum, deren Aufnahme manche Menschen als Bedrohung empfinden. Darüber ist eine ehrliche Auseinandersetzung zu führen, die dem Rassismus entgegenwirkt. Werden nämlich menschliche Qualitäten ganzen Völkern in nur geringem Maße zugesprochen, dann werden solche Menschen pauschal dämonisiert, als dauerhaft und unabänderlich minderwertig betrachtet. Dies führt zu immer größerer gegenseitiger Ablehnung und dazu, dass die eigentlichen Probleme nicht mehr wahrgenommen und Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation nicht mehr aufgegriffen werden.  

 

 

Anmerkungen: 

 

(1) Wie sehr sich die moralische Empfindung des Erhabenen und der Ehrfurcht, der Glaube an einen heiligen Willen und das beglückende Gefühl, Teil einer größeren Kraft zu sein, zur Manipulation eignen, machen die Propagandafilme von Leni Riefenstahl deutlich.

 

(2) Heinsohn schreibt: „Hitler wollte die archaischen Stammespraktiken des Infantizids und der Völkervernichtung wiederherstellen und dafür das Volk des Tötungsverbotes der Zehn Gebote auslöschen. Bald nach dem Ersten Weltkrieg hatte er das Judentum als Verursacher für die ethische Überwindung dieser uralten Tötungssitten identifiziert. Die Niederlage des Deutschen Reiches im Krieg von 1914–18 schob er auf „religiöse Prinzipien“. Sie seien allein von deutscher Seite eingehalten worden, wodurch der Wille zum bedingungslosen Töten für den Sieg „zersetzt“ worden sei. Diese Analyse erstellte Hitler ohne persönlichen Hass auf Juden, er war frei von „Radau-Antisemitismus“.

Hitler selbst wollte keineswegs ein besonders rücksichtsloser Übertreter des jüdisch geschöpften Tötungsverbotes sein, sondern dessen kompromissloser Beseitiger. Aus dem Studium der Geschichte hatte er die Überzeugung gewonnen, dass vor Entstehung der jüdischen Ethik der Lebensheiligkeit und des Fremdenschutzes ganz andere Normen geherrscht hatten – die Stärkung nach innen durch Tötung behinderten Nachwuchses und die Unüberwindbarkeit nach außen durch Ausrottung und nicht nur Niederwerfung des Gegners. Diesen althergebrachten Tötungsrechten wollte er für eine globale Führungsrolle Deutschlands – und deshalb die Germanisierung Europas bis zum Ural – von neuem Geltung verschaffen. 100 Millionen Slawen sollten durch sofortige Tötung, Zwangsarbeit, „Umvolkung“ oder Deportation nach Sibirien eliminiert werden. Etwa 11 Millionen wurden bis Kriegsende getötet.

Der Beseitigung der Juden als Voraussetzung für die Ausmerzung der jüdischen Ethik war von Hitler mithin als Maßnahme zur Wiederherstellung eines Rechts auf Tötung aller internen „Schwächer“ und „Zersetzer“ sowie aller – vorzüglich jedoch slawischen – raumpolitischen Gegner gedacht. Sie erfolgte deshalb gleichzeitig mit der Eroberung östlichen Lebensraums. Dabei handelte es sich nicht wie bei den Feldzügen gegen Frankreich, Dänemark und Norwegen um reguläre Kriege, sondern um genozidale Tötungen unter dem Schutz der Wehrmacht.

In einer kalt-modernen Sprache könnte man sagen, dass Hitler die Hardware, die jüdischen Menschen, zerschmettern ließ, um die Software, das jüdische Programm der Lebensheiligkeit, aus dem deutschen Bewusstsein zu löschen. Freilich wurden auch Nichtjuden – insbesondere Christen – beseitigt, nämlich dann, wenn sie aktiv für das jüdisch-ethische Erbe des Lebensschutzes eintraten, sich also als jüdisch „infiziert“ erwiesen.“

 

(3) Noch bis in die Neuzeit kam nicht selten vor, dass Eltern ihr Kind töteten oder aussetzten, da sie es nicht ernähren konnten. Vor diesem Hintergrund entstanden Geschichten wie die von Hänsel und Gretel. Die handschriftliche Urfassung des Märchens der Gebrüder Grimm ist von 1810 und verweist auf Erzählungen aus Hessen. Im Märchen kehren die Kinder nach Vernichtung der Hexe zum Vater zurück. Die Mutter, in späterer Fassung „Stiefmutter“, die das Aussetzen veranlasst hatte, ist inzwischen gestorben.

 

(4) Können wir uns einen „Typ Eichmann“ als Manager eines multinationalen Unternehmens, das etwa in Afrika tätig ist, vorstellen? Ein solcher Manager trifft Entscheidungen, die Jobs bringen oder aber kosten, die jeweils 10 oder 15 Angehörige eines Arbeiters miternähren. Er weiß, ob der am Weltmarkt orientierte Preis beispielsweise für Baumwolle oder Kaffee, den der Konzern den Bauern zahlt, reicht, um die Familien überleben zu lassen. Er weiß, ob die dem Konzern zuliefernden Firmen grundlegende Standards erfüllen oder aber nicht. Ob dort Kinder zur Arbeit gezwungen werden. Er weiß, wie Verträge durch Bestechung zustande kommen, kennt Kontakte, die Schmiergeld an hohe Beamte und Militärs entrichten. Er kennt legale Möglichkeiten, um die Steuern auf Gewinne nicht im Land, sondern woanders, in Tiefsteueroasen entrichten zu können. Dabei handelt dieser Manager aus Pflicht, denn er fühlt sich seinem Aufsichtsrat und den Eigentümern des Konzerns, damit reichen Anlegern, mächtigen Banken und Versicherungen, verpflichtet. Ohne Zögern führt er harte Sparmaßnahmen durch, um möglichst profitabel zu wirtschaften und den Wert des Unternehmens zu steigern. Dessen Image hält er sauber, gründet jedoch Tochtergesellschaften, die internationale Standards unterwandern. Er nutzt seinen Wissensvorsprung und die Korrumpierbarkeit seiner Partner, um Verträge zum Vorteil des Konzerns, aber zum Nachteil jener ärmsten Länder zu erwirken. So plündert der Eichmann gemeinsam mit der herrschenden Elite die wirtschaftlichen Guthaben des Landes, seine Rohstoffe und Böden, zum Schaden der Bevölkerung, die in katastrophaler Armut lebt, sowie zum Schaden zukünftiger Generationen.

 

Und dieser Manager besitzt noch eine weitere Rechtfertigung: Irgendwann werde die berühmte unsichtbare Hand der freien Marktwirtschaft auch in diesem Land Wohlstand schaffen, der letztlich allen zugutekäme, sagt er vielleicht. Dabei weiß er sehr gut, dass dem Land so bald keine wirtschaftliche Entfaltung gelingen kann. Sollte das Land aber endgültig im Chaos versinken, die Böden ausgelaugt sein oder die Gewerkschaften zu lästig werden, müsse man eben einen anderen Standort suchen, denkt er. Und wenn er zu seinen Betrieben gefahren wird, dann blickt er nur ungern aus seinem Wagen und auf die Gassen, entlang derer endlose Mengen unterernährter, zerlumpter Menschen in äußerstem Elend hausen. 

 

(5) DNA Moleküle, die Träger des Erbguts, sind äußerst stabil. Die älteste zugängliche DNA stammt von einem im Permafrost konservierten Pferdekörper und ist 1 Million Jahre alt. 

 

(6) Lactosetoleranz bedeutet, dass Menschen auch im Erwachsenenalter ein passendes Enzym bilden, um Milch verdauen zu können. Dafür verantwortlich ist eine genetische Mutation, die sich erst mit Beginn von Viehzucht und Ackerbau unter den Menschen verbreitete. Milch als zusätzliche Nahrungsquelle nutzen zu können, brachte den Trägern der Mutation einen enormen evolutionären Vorteil, denn es reduzierte die hohe Kindersterblichkeit nach dem Abstillen. Analysen der Genetiker zufolge konnten Mutationsträger zehnmal mehr Kinder großziehen als Lactose-intolerante Menschen. In nur 400 Generationen stieg die Rate der Lactose-Toleranten von 0 auf 90 Prozent.  

 

 

 

Literatur: 

Gunnar Heinsohn: Warum Auschwitz? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt ; Rowohlt 1995

Johannes Hemleben: Darwin ; Rowohlt 1968

Noah Harari : Eine kurze Geschichte der Menschheit ; Pantheon 2015

youTube: Eichmann trial 

Gunnar Heinsohn: Was ist Antisemitismus? ; Eichborn 1988