In diesem Abschnitt wird das erste Kapitel aus dem Schulbuch „Ethik 1 - Diskurs und Orientierung“ von Dr. Katharina Lacina und Dr. Anita Kitzberger behandelt. Über die Seite des Verlags steht das Schulbuch auch online zur Verfügung: https://www.hpt.at/verlagsprogramm/schulbuecher/ethik-1-diskurs-und-orientierung 

 

Ethikunterricht

Den Beginn des Kapitels bildet ein Beispiel. Darin geht es um einen ernsten Vorfall, der sich in einem Klassenzimmer zuträgt. Eine Lehrerin wird bestohlen. Sie befragt daraufhin die Schüler, ob sie etwas wissen. Ein Schüler weiß, dass sein Freund der Dieb ist. Wie soll er sich verhalten? Soll er seinen Freund verraten oder aber die Lehrerin belügen?

 

Das Schulbuch legt nahe, eine Diskussion in Kleingruppen anzuregen. Anzunehmen ist, dass die Schülerinnen und Schüler für das Beispiel mehrheitlich die Notwendigkeit einsehen, die bestohlene Lehrerin zu informieren. Auch wenn dies für den im Beispiel genannten Schüler, Noah, natürlich sehr unangenehm sein kann, darf er seinen Freund dennoch nicht decken. Für die Ethiklehrerin ergibt sich eine gute Gelegenheit, an den Kleingruppen kurzzeitig teilzunehmen und sich ein Bild von den Gesprächen zu machen. Sie wird dabei keine vorgefasste Überzeugung mitteilen, doch kann sie durch gezieltes „sokratisches“ Nachfragen wichtige Perspektiven hervorheben. Fehlverhalten wie echte Gewalt, das Quälen von Schwächeren, Diebstahl, erfordern ein entschiedenes Eingreifen, da sich der Ausübende sonst vielleicht sogar ermutigt fühlen würde. Grundsätzlich denke ich an das Vertrauen, das den Widerstreit jener Regeln, den Freund nicht zu verraten, aber auch nicht zu lügen, begründet. Unter Freundschaft ist eine Beziehung großer Vertrautheit zu verstehen, die die Regel entstehen lässt, den Freund nicht leichtfertig zu verraten. Ebenso braucht es für eine funktionierende Klassengemeinschaft ein Vertrauen, das dann in Widerspruch zur Unehrlichkeit gerät. Der konkrete Fall betrifft jedoch das System wechselseitiger Verpflichtungen einer Lehrer-Schüler-Beziehung, etwa die besondere beiderseitige Verpflichtung zu einem respektvollen Miteinander. Das Einhalten solcher Verpflichtungen ist die Grundlage eines partnerschaftlichen Unterrichts, wo Lehrende und Lernende eine Gemeinschaft auf Augenhöhe bilden. Darüber hinaus verletzt der Diebstahl natürlich das Recht. Einen solchen Rechtsbruch zu decken, ist mit der Loyalität, die eine Freundschaft verlangt, nicht zu rechtfertigen. Dies käme sonst einer Moral gleich, wie sie der Mafia nachgesagt wird. 

 

Sodann findet sich im Aufgabenfeld die Anregung, den Begriff des Dilemmas zu thematisieren. Häufig lässt sich ein Dilemma als Gegenstück einer Win-win-Situation fassen. Mein Vorschlag wäre, das Dilemma von Loyalität oder Aufrichtigkeit gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern neu zu bauen, sodass kaum noch eine Entscheidung möglich ist. Als Beispiel: In unlauterer Absicht wurde von meiner Freundin ein Bleistiftspitzer vom Schreibtisch einer Mitschülerin entwendet. Ich überlege, die Besitzerin zu belügen ("Nein, ich weiß nicht, wo dein Bleistiftspitzer hingekommen ist!") und meine Freundin nicht zu verraten. Würde ich die Freundin nämlich verraten, könnte ich dies nicht mehr rückgängig machen. Unter vier Augen möchte ich meine Freundin aber unbedingt zur Rede stellen und ein Nachdenken einfordern. Wäre es also okay, wenn ich der Besitzerin falsch Auskunft gebe? Aus meiner Sicht lässt das Beispiel, wird es in dieser Weise umformuliert, keine eindeutige Handlungsempfehlung zu. So verstanden kann das Beispiel - ohne "erhobenen Zeigefinger" - zur Verdeutlichung der weiteren Themen des Kapitels dienen.

 

Moral und Ethik

 

Der Begriff Moral wird erklärt: „Mit Moral wird ein System von Regeln, Geboten und Verboten bezeichnet, welches das Zusammenleben von Menschen organisiert und ein von der Gemeinschaft erwünschtes Verhalten hervorbringen soll.“ Moral meint nach moderner Auffassung keinen bestimmten Kontext, sondern sämtliche Regeln und Gebote, die das Leben in der Gemeinschaft ordnen. Näher wird Moral dadurch charakterisiert, dass das erwünschte Verhalten nicht durch vernunftbasierte Argumente gestützt und Forderungen nicht aufgrund vernünftiger Überlegung nachgekommen wird. Die Wirksamkeit von Moral resultiert aus Erziehung, Umfeld, Gewohnheit, sozialem Druck, dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, der kritiklosen Übernahme von Meinungen, Gehorsam gegenüber religiösen Normen. (1)

 

Wir können aber auch aus persönlicher, vernunftbasierter Einsicht Regeln und Gebote befolgen. Dies ist als ethisches Handeln zu bezeichnen. Dabei meint vernünftige Argumentation, das Verhalten in Bezug zur Gemeinschaft zu rechtfertigen. Selbstredend ist hierbei die Richtigkeit und innere Akzeptanz moralischer Regeln und Gebote nicht vorausgesetzt. Im Sinne von Ethik gelangt die Sinnhaftigkeit moralischer Forderungen auf den Prüfstand unparteilicher Vernunft. Ethische Entscheidungen und Beurteilungen stehen zudem in Zusammenhang mit grundlegenden Überzeugungen, was richtig und erstrebenswert ist. Hier spricht man von Werten. Damit diese im Sinne von Ethik Orientierung geben können, braucht es die "Bereitschaft, nicht nur die eigenen Interessen und Vorlieben zu beachten, sondern auch die Interessen der anderen. Werte zeigen den Übergang vom Ich zum Du, vom Individuum zur Gemeinschaft." Ethische Werte sind u.a. Unparteilichkeit, Hilfsbereitschaft, Toleranz, Leben in Würde. (2)

 

Mit der Forderung nach vernünftiger Begründung tritt Ethik als traditionelle Disziplin der Philosophie in Distanz zur Moral. Innerhalb der Ethik lassen sich Felder unterscheiden. Ein Feld der Ethik meint die Beschreibung und Analyse von Moral. Beispielsweise kann erhoben werden, welche Werte Jugendlichen im Unterschied zur älteren Generation besonders wichtig sind.

Die Veränderung moralischer Werte kann in Zusammenhang mit veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erforscht werden, etwa: Wie haben sich historische Vorstellungen zur Familie durch die Industrialisierung verändert?  

 

Nach Jahrhunderten religiös begründeter Ethik entstand im Zeitalter der Aufklärung der Wunsch, ausschließlich durch Vernunft die Frage zu beantworten, was richtiges Handeln und was das Gute sei. Dieses Feld der Ethik wird als normative Ethik bezeichnet und behandelt Richtlinien und grundlegende Prinzipien, die verbindlich über gebotene Handlungsweisen Auskunft geben. In Zusammenhang mit normativer Ethik werden auch Grundannahmen thematisiert, beispielsweise die Frage nach dem Stellenwert von Gefühlen. 

 

Seite 9 bringt ein Zitat der Philosophin Annemarie Pieper. Pieper schreibt: „Letztlich ist das eigentliche Ziel von Ethik: die gut begründete moralische Entscheidung als das einsichtig zu machen, was jeder selbst zu erbringen hat und sich von niemandem abnehmen lassen darf (…) In Sachen Moral ist niemand von Natur aus kompetenter als andere (…) Bei diesem Aufklärungsprozess hat die Ethik eine sehr wichtige Funktion: Sie soll nicht bevormunden, vielmehr Wege weisen, wie der einzelne unter anderen Individuen und in Gemeinschaft mit ihnen er selbst werden bzw. sein kann." Für den Unterricht in Sachen Ethik meint dies: Junge Menschen sollen dabei unterstützt werden, über moralische Belange nachzudenken. Regeln für das Zusammenleben dürfen jedoch nicht aufoktroyiert werden, sondern sollen nach ihrem Sinn befragt werden. Wie aber kann der Einzelne Hilfe erfahren, um für sich und in Gemeinschaft mit anderen "er selbst" zu werden? Ethikunterricht kann die Auseinandersetzung mit Werten anregen. Erfahren ethische Werte innere Zustimmung, sollte daraus ein Bemühen um entsprechende Eigenschaften resultieren. Doch zählt für den Unterricht nicht so sehr, ob es für einen Wert (wie beispielsweise Disziplin) Zuspruch oder tendenzielle Ablehnung gibt, sondern das Gelingen eines gemeinsamen, vernünftigen und partnerschaftlichen Dialogs über diesen Wert.  

 

 

Begründungen für moralisches Verhalten

Im Anschluss werden im ersten Kapitel Typen von Begründungen für moralisches Verhalten sehr hilfreich angeführt. Hier interessiert es mich sehr, was Schülerinnen und Schüler zu den Bereichen denken!

 

Bezug auf Gefühle: Denken wir das erfundene Dilemma weiter: Die Freundin klaut auch weiterhin fremde Schreib-Utensilien. Nachdem ich es erneut bemerke, bin ich so enttäuscht und verstimmt, dass ich die Freundschaft mit ihr beende. Später tut es mir aber vielleicht leid und ich finde meine Reaktion unangemessen. Dazu kann man sagen: Besonders Gefühle wie Empörung, Enttäuschung oder Zorn können dazu führen, nur noch jene Aspekte an einem Menschen wahrzunehmen, die diese aufgewühlten Emotionen bestätigen. Zwar kann ein Gefühl wie Empörung auch helfen, sich gegen ein Unrecht zu wenden und insofern auch nützlich sein, im Allgemeinen sind solche Emotionen jedoch nicht hilfreich, um gerecht zu urteilen und die langfristigen Folgen im Blick zu behalten.

Andererseits werden bestimmte Haltungen wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit oder Mitgefühl, die offenkundig mit Gefühl zu tun haben, traditionell hoch geschätzt, um moralisch zu handeln. Dies gilt besonders dann, wenn sie nicht nur bestimmten Menschen wie etwa Verwandten gelten, sondern universell verstanden werden. Besonders in Hinblick auf die Hilfe für Notleidende schaffen diese Gefühle eine starke Motivation und Verpflichtung. Darüber hinaus begründen sie moralisches Handeln indem sie die Brücke vom Ich zum Du bauen.  

 

Bezug auf Tatsachen: Zur Begründung mit Tatsachen heißt es: „Sieht man genauer hin, verstecken sich darin ethische Werte und Begründungen (…)“. Das meint: Streng genommen sind Tatsachen einfach nur so, wie sie sind. Wenn ich beispielsweise im Klassenzimmer einen fremden Spitzer stibitze, dann ist das eine Tatsache. Dass ich es besser nicht tun sollte, ist aber keine Tatsache, sondern eine ganz andere Botschaft. Diese Unterscheidung geht auf einen bedeutenden Philosophen der Aufklärung, David Hume zurück. Aus dem Sein lässt sich kein Sollen ableiten - so lautet Humes Gesetz. Hume wollte damit ausdrücken, dass die Bewertung, ob etwas moralisch gut oder schlecht sei, nicht im Beobachteten liegt, sondern durch Überzeugungen, Gedanken und Gefühle entsteht, die der Beobachter selbst einbringt. Die Differenz weist auf die Notwendigkeit, einen allgemein anerkannten ethischen Wert als Stützung zu nennen, um von einer Tatsache zu einer moralischen Forderung zu gelangen. Im Beispiel kann die Forderung, den Spitzer der Besitzerin zurück zu geben dadurch gestützt werden, dass Eigentum zu respektieren ist. Dieses Argumentationsschema wird im Anschluss thematisiert. 

 

Bezug auf mögliche Folgen: Selbstverständlich ist ein solcher Bezug sehr wichtig. Um die Folgen einigermaßen abschätzen zu können, müssen wir die konkrete Situation sehr genau betrachten. Natürlich können wir die Konsequenzen von Handlungen nicht immer vorhersagen. Es gibt Zufälligkeiten und Dinge, die wir einfach nicht wissen können. Im Beispiel können wir unseren Freundin verraten, aber dennoch denkt niemand daran, dass sie den Spitzer absichtlich behalten hätte. Oder aber sie verliert Ruf und Ansehen, weil alle sie von jetzt an für eine Diebin halten. Die Freundin kann sich dann für ihr Verhalten sehr schämen und vielleicht sogar ein Leben lang an das Ereignis zurückdenken. Sie kann aber auch versuchen, sich für meinen Verrat zu rächen usf. Aber auch wenn wir einfach nicht wissen können, wie die Dinge sich entwickeln werden, können wir dennoch nach bestem Wissen und Gewissen bemüht sein, damit die Folgen hoffentlich positiv sind. Dafür braucht es natürlich eine Idee, was überhaupt positive Folgen, eine positive Entwicklung sein könnte.

 

Neben dem Hinweis auf mögliche Folgen gibt es auch die Möglichkeit, die eigene Auffassung mit einem Prinzip zu begründen (z.B. „Eine Diebin würde ich niemals decken!“). Hier zeigt sich eine gewisse Übereinstimmung mit der Rechtsprechung. Richterliche Urteile müssen sich an den vorgegebenen gesetzlichen Rahmen halten um Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit des Rechts zu gewährleisten. Dies gilt für die Rechtsprechung, wogegen die Gesetzgebung durch die Politik primär auf beabsichtigte Folgen achtet. Zudem ist sie demokratisch legitimiert und sollte daher im Sinne der größtmöglichen Akzeptanz und Zufriedenheit der Bevölkerung ausfallen. Die Grundgesetze der Verfassung bilden dagegen für den Rahmen der Gesetzgebung eine Ausnahme und folgen einer intrinsischen Argumentation. Vergleichsweise braucht es auch für unser Wissen, dass Diebstahl prinzipiell schlecht ist, keinen Blick auf konkrete Folgen. Immerhin setzt Diebstahl voraus, dass andere Eigentum respektieren und eben gerade nicht stehlen. Auch würde niemand ernsthaft wollen, selbst bestohlen zu werden!

 

Der nächste Punkt nimmt Bezug auf das Gewissen. Im Schulbuch finden sich auf Seite 28 sehr tiefsinnige Gedanken des deutschen Soziologen Niklas Luhmann (1956). Es heißt: „Die Frage, ob ich mit einer vergangenen Handlung weiterleben kann und wer ich dann sein werde, hat eine andere Problematik (…) als die Frage, ob ich eine künftige Handlung auf mich nehmen kann oder nicht. (…) Nach der Tat ist diese Wahlmöglichkeit vertan, und das Gewissen zwingt dann zur Identifikation mit der Vergangenheit, zu der Erkenntnis, dass ich auch jetzt noch und für immer einer bin, der so handeln konnte. Das Gewissen fordert mich dann auf, (…) die verbleibenden Möglichkeiten neu zu ordnen.“ Luhmann unterscheidet das Gewissen hinsichtlich der Zukunft von dem Gewissen hinsichtlich der Vergangenheit und spricht von einem Handeln, das zu einem anderen Menschen machen kann oder aber bereits gemacht hat. Seine Überlegung steht in Zusammenhang mit der Selbstachtung und mit Vorwürfen, die entstehen können, wenn uns die Vergangenheit mit einem Selbstbild konfrontiert, das wir kaum akzeptieren können.

 

Eine weitere Begründung für moralisches Handeln meint den Bezug auf Autoritäten im Sinne von Vorbildern. Eine solche Begründung ist allerdings nicht im Sinne einer säkularen Ethik. Dennoch haben Vorbilder natürlich großen Einfluss. Beispielsweise können Prominente, die in sozialen Medien zeigen, wie sie geimpft werden, die Impfbereitschaft ihrer Fans vergrößern. Auch für den Ethikunterricht ist vielleicht denkbar, Persönlichkeiten von großem Ansehen als Modelle einzusetzen, zugleich aber zur kritischen Auseinandersetzung anzuregen. Das Thema wird in einem späteren Abschnitt des Schulbuchs behandelt. Aus lerntheoretischer Sicht bestehen auch die Forderung an Pädagoginnen und Pädagogen, ein akzeptables Vorbild abzugeben. Speziell im Ethikunterricht sollte das eigene Bemühen des Pädagogen um Einsicht und um solche Eigenschaften, von denen er spricht, spürbar sein.

 

Die im Buch letztgenannte Möglichkeit, um moralisches Handeln zu begründen, meint den Bezug auf einen Moralkodex. Der bekannteste Moralkodex sind die 10 Gebote der christlichen Religion, der so genannte Dekalog, der sich im Tanach, der hebräischen Bibel, findet. In Zusammenhang mit dem erfundenen Dilemma gilt das achte Gebot „Du sollst nicht stehlen“ und das neunte Gebot „Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen“. Genauso passend lässt sich der Kodex des Korans heranziehen, wo es ebenso 10 Gebote gibt. Das achte Gebot lautet: „Und wenn ihr aussagt, dann seid gerecht, auch wenn es um einen Verwandten geht.“ Wir sollen eigene Verwandte und Freunde nicht bevorzugen. 

 

Religiöse und säkulare Argumentation

Worin liegt der Unterschied zwischen religiöser und säkularer Argumentation, religiöser und säkularer Ethik? Zunächst zur Begründung in religiöser Hinsicht, nämlich in der christlichen Religion. In der christlichen Religion hat Jesus von Nazareth auf strittige Themen unter den Rabbinern geantwortet und sich positioniert. Für Jesus ist die Liebe zum Nächsten gemeinsam mit der Liebe zu Gott das höchste Gebot. Und mit dem Nächsten ist nicht nur das eigene Volk gemeint, sondern jeder Mensch. Demnach lautet die Begründung, dass sich aus der Liebe Gottes die Liebe zum Nächsten ableitet und aus dieser Liebe dann die weiteren Gebote, beispielsweise: Wenn du deinen Nächsten liebst, bestiehlst du ihn nicht und sagst nicht falsch gegen ihn aus. 

 

Im Schulbuch heißt es demgegenüber zur säkularen Ethik, dass sie rationale Begründungen sucht und nicht mit der Autorität eines höheren Wesens, also Gott, begründet wird. Auf Seite 12 wird die Möglichkeit der vernünftigen Begründung als Schema dargestellt. Es gibt einmal eine Datenlage, die besagt, wie etwas ist. Zum anderen gibt es eine Schlussfolgerung, was wir tun sollen. Damit wir aber von der Datenlage, wie etwas ist, zum Schluss kommen, was wir tun sollen, braucht es eine Stützung. Dies meint, dass allgemein anerkannte Werte und Begründungen das konkrete Urteil oder den konkreten Imperativ stützen sollen. Darüber hinaus weist das Schema auf die Möglichkeit von Ausnahmen hin. Eine mögliche Ausnahme zieht die Gültigkeit der Argumentation nicht in Zweifel, sondern nennt besondere Umstände, die zu berücksichtigen sind. Im Beispiel: Gebrechliche Menschen sind in den Öffis sturzgefährdet - das ist eine Tatsache. Zweitens gibt es eine Stützung, sie lautet: Menschen sollen vor Schaden geschützt werden. Durch diese vernünftige Stützung entsteht die Forderung, gefährdeten Menschen zu helfen. Und durch die Überlegung, wie eine solche Hilfe aussehen könnte, kommt es zur Schlussfolgerung, bei Bedarf den Sitzplatz frei zu machen. 

 

Interessant hierbei ist die Stützung, die eingebracht wird. Prinzipiell ist es ja möglich, auch die Stützung zu hinterfragen: Wieso sollen Menschen eigentlich vor Schaden geschützt werden? Braucht es nicht auch dafür wieder eine Begründung? Wenn es aber keine Belohnung durch ein höheres Wesen gibt, dann fehlt doch irgendwann eine letzte Begründung. „Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt“, so ein bekanntes Zitat von Fjodor Dostojewski in „Die Brüder Karamasow“. Rüdiger Safransky meinte dazu: "Das mag zutreffen. Aber, wie die Geschichte lehrt, gilt auch der Satz: mit Berufung auf Gott hat man sich schon alles erlaubt.“ Dementsprechend in Misskredit geraten ist die Berufung auf eine göttliche Ordnung, die „über den Menschen schwebt“ und von uralten Quellen befohlen wird. (2) Das Thema Religion kommt im letzten Kapitel des Schulbuchs zur Sprache. Wie sieht es aber mit dem Einwand aus, dass da etwas Bodenloses an der Forderung sei, Menschen sollen vor Schaden geschützt werden? 

 

Es gibt ein sehr bekanntes Gedankenexperiment, das als "Schleier des Nichtwissens" bezeichnet wird und von John Rawls stammt. Mit diesem Gedankenexperiment sind Menschen gemeint, die über ihre künftige Gesellschaftsordnung entscheiden können, aber selbst nicht wissen, wer sie in dieser künftigen Gesellschaft sein werden. Das Gedankenexperiment führt Rawls zu Grundsätzen, die für eine gerechte Gesellschaft gelten sollen. Es fordert dazu auf, einen unparteiischen Standpunkt einzunehmen und das "gemeinsame Menschsein" anzuerkennen. Diese grundlegendste Forderung einer vernünftigen Ethik wird durch Konzepte der normativen Ethik konkretisiert. Seit jeher findet sie in leicht verständlicher Weise durch die Goldene Regel Ausdruck: Wir sollen den anderen Menschen so behandeln, wie wir selbst behandelt werden möchten! Daraus leitet sich der Anspruch auf Hilfe ab, dass also Menschen vor Schaden geschützt werden sollen. Und mehr noch: Beachten Menschen die Goldene Regel und gestalten sie ihre Beziehungen in dieser Weise, so entsteht ein Zustand gegenseitigen Vertrauens, da alle um Gerechtigkeit bemüht sind. Das gemeinsame Menschsein meint zudem das gemeinsame Streben nach Glück. Dafür gilt es den Nutzen moralischer Standards, besonders in einer Welt, wo die gegenseitige Abhängigkeit in ökonomischer, ökologischer, pazifistischer, sogar gesundheitlicher Hinsicht stetig zunimmt, einzusehen.

 

Im Aufgabenfeld findet sich die Anregung, das Toulmin-Schema zum Thema Umweltschutz darzustellen. Informationen können den Klimawandel und dessen Auswirkungen auf Gesundheit, Wasser, Nahrung, Wirtschaft und Sicherheit nennen. Falls schnelle und deutliche Schutzmaßnahmen ausbleiben, wird sich die Bedrohung durch negative Folgen in Zukunft noch deutlich erhöhen. Die ethische Stützung lautet, dass künftige Generationen vor Schaden zu schützen sind. Daher soll die Emission von Klimagasen möglichst unterbunden werden. Eine konkrete Schlussfolgerung ist, den Einbau neuer Ölheizungen zu verbieten. Ausnahme: In Kombination mit erneuerbaren Energien sind Hybrid-Heizungen weiter erlaubt. (3)

 

Platons Dialog

Das Toulmin-Schema eignet sich dafür, moralische Entscheidungen rational zu begründen, zu verstehen und zu kommunizieren. Häufig gründen moralische Entscheidungen aber nicht auf Regeln, sonder auf inneren Werten, die unmittelbar wirksam werden. Beispielsweise würden sehr viele Menschen in den Öffis einem gebrechlichen Menschen sofort ihren Sitzplatz überlassen, ohne dass es dafür eine entsprechende Beschilderung, Durchsage, eine informelle Regel oder die unmittelbare Wertschätzung durch andere Fahrgäste braucht. Dies führt zu einer anderen Form der Begründung für moralisches Verhalten, die im Schulbuch auf Seite 13 zur Sprache kommt. Sie zielt auf das eigene Wohlbefinden und das gelungene Leben ab. Zitiert wird aus einem Dialog aus dem vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Platon lässt darin seinen Lehrer Sokrates auftreten. Der Gesprächspartner von Sokrates meint, dass Menschen eigentlich egoistisch sind und primär nach ihrem Vorteil handeln. Sie befolgen Regeln nur, weil sie Angst vor Strafe haben und nicht ausgeschlossen werden wollen. Was wäre jedoch, wenn sie unsichtbar handeln könnten? Dann würden sie sich überhaupt nicht um Regeln und Moral kümmern! Wenn man also Regeln befolgt, dann zeigt das eigentlich nur, dass man ängstlich und schwach ist. Sokrates erwidert: „Denkst du, es macht Menschen glücklich, völlig rücksichtslos und gemein zu sein? Im Gegenteil: sich gerecht und fair zu verhalten, ist an sich schon etwas Gutes, weil es gut für die Seele ist.“ 

 

Der Dialog bietet für den Unterricht eine schöne Möglichkeit zum Austausch über Menschenbilder und über die Motivation, ein guter Mensch sein zu wollen. Auch kommt der Unterschied zwischen Scham und Reue zur Sprache. Scham entsteht besonders dann, wenn ein Vergehen nachgewiesen wird, ans Licht kommt und der Ruf ernsten Schaden nimmt. Dagegen lässt Reue die Verfehlungen auch dann bereuen, wenn keine negativen Konsequenzen drohen. Das gemeinsame Gespräch über die Frage nach der Natur des Menschen bietet zudem Gelegenheit, Philosophen wie Thomas Hobbes und Friedrich Nietzsche zu erwähnen, die eine skeptische Sicht auf das Gute im Menschen vertreten und von einer grundsätzlich selbstsüchtigen Natur ausgehen. Nach Hobbes würden sich Menschen wie Raubtiere verhalten, gäbe es keinen Staat, der für Ordnung und Schutz garantiert. Dass die Moral eigentlich etwas für Ängstliche und Schwache sei, weist auf Nietzsche. Die ängstlichen und schwachen Mitglieder der Gemeinschaft brauchen die Moral, um nicht völlig machtlos zu sein. Die so genannten guten Menschen sind aber entweder Heuchler, oder - wie der Gesprächspartner von Sokrates offen ausspricht - blöd. Eindrucksvoll behandelt Platon solche Fundamentalkritik auch im Dialog Gorgias. 

 

Interessant ist die Entgegnung des Sokrates. Es macht Menschen nicht glücklich, wenn sie rücksichtslos, ungerecht und gemein sind, sagt Sokrates. Dagegen ist es gut für die Seele, gerecht und fair zu sein. Für Sokrates ist der Mensch also von Natur aus gut. Moderne Philosophen wie Richard David Precht vertreten die Ansicht, dass der Mensch aufgrund seiner Stammesgeschichte wenig selbstsüchtig, sondern eher kooperativ und fürsorglich ist. Demnach handelt es sich um eine natürliche Neigung, anderen Menschen, wenn sie notleidend sind (und sonst keiner hilft), zu helfen. Auch lässt sich argumentieren, dass es gut für die Seele ist, liebevoll zu sein. Vielleicht reaktivieren wir durch solches Empfinden eine eigene frühkindliche Erfahrung von Fürsorglichkeit. Eine solche frühkindliche Erfahrung ist für jeden Menschen lebensnotwendig. Es sollte daher der menschlichen Disposition entsprechen, im späteren Leben selbst fürsorglich zu empfinden. Im Allgemeinen macht es Menschen daher sicher nicht glücklich, rücksichtslos zu sein oder andere Menschen zu quälen! (4) 

 

In Platons Dialog bezieht sich die Antwort des Sokrates nicht nur darauf, wie Menschen „von Natur aus“ sind. Vermutlich sind die meisten Menschen, die das Glück einer liebevollen Förderung und humanistischen Bildung hatten, aus Überzeugung gerecht und fair und würden unter normalen Bedingungen weder lügen noch stehlen. Sie empfinden nicht nur Scham- sondern auch Schuldgefühle, wenn sie gegen moralische Verpflichtungen verstoßen. Während der natürliche Wert der Fürsorge die Pflicht zur Hilfeleistung untermauert, werden Fairness und Gerechtigkeit, Loyalität und Wahrhaftigkeit häufig als wechselseitige Verpflichtungen aufgefasst, die sich erst im Zusammenleben mit gerechten, loyalen, fairen, wahrhaften Menschen herausbilden. Wird eine Gesellschaft von solchen Werten einmal getragen, führt das dazu, dass viele Menschen sich ehrlich und langfristig verpflichtet fühlen. Sie halten auch dann an ihren Überzeugungen fest, wenn, wie Platon schreibt, "in der Mitte der Strecke die Schlechten für ihre Schnelligkeit bejubelt werden". 

 

Moral diskutieren

Der letzte Abschnitt des Kapitels behandelt das wichtige Thema der Kommunikation über moralische Belange. Solche Gespräche besitzen besonders dann, wenn es um tatsächliche Ereignisse geht, eine Nähe zum Streit. Dies einmal, weil moralische Regeln oft erst dann interessant werden, wenn sie in Konflikt geraten und Auffassungsunterschiede bestehen (oder vermeintliche Auffassungsunterschiede in den Vordergrund treten). Indem Moral, wie Niklas Luhmann feststellte, sehr häufig über Missachtung kommuniziert wird, kann dies rasch zu pauschalen Verurteilungen führen. Bezogen auf das Beispiel vom Diebstahl würde im Gruppengespräch ein Satz wie „Du wärst sicher zu feig, um der Lehrerin zu sagen, wer der Dieb ist!“ ein konstruktives Gesprächsklima sofort zerstören. Umso wichtiger ist, dass die Teilnehmer einander mit Achtung begegnen und ein Aufheizen des Gesprächs vermeiden. Dafür gilt es, im Unterricht eine konstruktive Gesprächskultur zu üben. Im Schulbuch finden sich auf der Seite 15 allgemeine Regeln, die zu beachten sind. Es heißt: "Für ethische - wie auch andere Diskussionen - gibt es gewisse Regeln, um in schwierigen Fragen weiterzukommen, Standpunkte zu erweitern und andere Sichtweisen kennenzulernen. Werden die Regeln nicht beachtet, entwickelt sich aus einem Streitgespräch rasch ein bloßer Streit." Diese Regeln für eine konstruktive Gesprächskultur meinen,

  • andere Teilnehmer direkt ansprechen und ausreden lassen (eigene Gedanken können notiert werden, bis man zu Wort kommt), sich an eine faire Redezeit halten,
  • sich um Interesse bemühen und Rückfragen stellen, um echtes Verständnis vom anderen Standpunkt zu entwickeln.
  • Was wir sagen, das sollen wir unbedingt auch meinen. Wir müssen nicht alles sagen, indem wir jedoch ehrlich sind, haben wir die Möglichkeit, uns im gemeinsamen Nachdenken der Wahrheit zu nähern. 
  • Wir müssen im Gespräch nicht unbedingt Einstimmigkeit finden. Im Gegenteil kann gerade die abweichende Meinung den Blick und das Urteil der Gruppe abrunden und sollte daher in komplexen, vielschichtigen Angelegenheiten sogar begrüßt werden. Entscheidend ist, dass Ansichten, Argumente, ja auch Gefühle sachlich eingebracht werden. Auch in den Dialogen Platons kommt diese Bedeutung der ganz anderen Ansicht zum Tragen. So  fördert der offene und kritische Austausch tieferes Verständnis. 

 

 

 

 

Anmerkungen: 

 

(1) Herlinde Pauer-Studer schreibt: „Moralische Fragen ergeben sich im Kontext von Verletzbarkeit, Schmerz, Leid, Ungleichbehandlung und Unterdrückung. Moralisch relevante Bedingungen und Situationen sind im Fall von Hilflosigkeit, Bedürftigkeit, Abhängigkeit, Marginalisierung, Ausgrenzung, Abwertung, Entwürdigung, Willkürlichkeit und Parteilichkeit gegeben. Die wesentlichen moralischen Kategorien sind demnach menschliche Würde, Achtung, Universalität, gleiche Berücksichtigung und grundlegende Rechte.“ (Herlinde Pauer-Studer: Einführung in die Ethik, 2. Auflage 2010, S.12) 

 

(2) Auch Rechtsnormen sind Gegenstand rationaler Diskurse, doch sind sie verbindlich festgelegt und werden notfalls mit Zwang durchgesetzt. Die Unterscheidung von Ethik und Moral gilt zudem nicht für den englischen Sprachgebrauch, wo die Begriffe ethics und morals synonym verwendet werden.  

 

(3) Dem ist jedoch mit dem Moraltheologen Eberhard Schockenhoff entgegen zu halten: Spätestens seit dem 2. Vatikanischen Konzil sieht die christliche Theologie die göttliche Offenbarung nicht primär in den Sätzen der Heiligen Schrift, sondern die Heilige Schrift bezeugt die Offenbarung Gottes im Leben und Sterben der Person des Jesus von Nazareth. Die Heilige Schrift, die Bibel, ist damit nicht selbst das Wort Gottes, sondern Jesus Christus ist die Person, durch die sich Gottes Worte offenbarten. Dieses Offenbarungsverständnis hat auch einen Paradigmenwechsel der christlichen Ethik zur Folge.  

 

(4) Um vom Sein auf ein Sollen zu gelangen, braucht es eine Stützung, beispielsweise: Wir sollen die Natur schützen, weil sie unsere Lebensgrundlage ist. Eine andere, allerdings zweifelhafte Möglichkeit besteht darin, die Natur als "das Gute" zu betrachten. Etwa lässt Platon im Dialog Gorgias den Kallikles sprechen: "Gerecht ist, dass der Bessere mehr hat als der Schlechtere und der Stärkere über den Schwächeren die Oberhand gewinnt. Dieser Sachverhalt zeigt sich allenthalben, sowohl bei den übrigen Lebewesen wie auch unter den Menschen an ganzen Staaten und Geschlechtern, dass das Recht so bestimmt ist, dass der Stärkere über den Schwächeren herrscht und mehr hat als er. (...) Sie tun dies, wie ich meine, nach der Natur dessen, was gerecht ist, und wahrlich auch nach dem Gesetz der Natur, aber freilich nicht im Einklang mit demjenigen Gesetz, das wir künstlich machen. Wir biegen unsere Besten uns Stärksten von Jugend an, wir knechten sie durch Besprechung und Bezauberung, wie man das mit Löwen macht, indem wir ihnen vorsagen: Gleichheit muss man haben und das ist das Schöne und Gerechte. Wenn aber, so glaube ich, einer mit einer starken Natur zum Manne wird, dann schüttelt er das alles ab, reisst sich los, bricht aus, wobei er unsere Buchstaben, unser Blendwerk, unsere Beschwörungen und widernatürlichen Gesetze alle mit Füßen tritt. Und dann steht er auf und erscheint als unser Herr; und in diesem Vorgang bricht das Licht des natürlichen Rechts durch." 

 

(5) Allerdings gibt es ein sehr bekanntes Experiment, das Milgram-Experiment, das gezeigt hat, dass ganz normale Menschen widerwillig bereit sind, andere Menschen zu quälen, wenn es befohlen wird. Wenn also Moral und Gehorsam in Konflikt treten, setzt sich der Gehorsam gegenüber dem Gewissen durch.