Lesen wir, was Wikipedia zur Rolle der Frau in Deutschland in den 1950er, 60er, 70er Jahren schreibt:  „Vielfach vergessen wird heute, dass auch in der Bundesrepublik Deutschland laut BGB bis 1977 Frauen ihre Ehemänner um Erlaubnis fragen mussten, wenn sie einer beruflichen Tätigkeit nachgehen wollten. Bis 1958 konnte ein Ehemann das Dienstverhältnis seiner Frau fristlos kündigen. In Bayern mussten Lehrerinnen noch in den 1950er Jahren im Sinne des Lehrerinnenzölibats ihren Beruf aufgeben, wenn sie heirateten. Und erst mit dem Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das 1958 in Kraft trat, hatte der Mann nicht mehr das Letztentscheidungsrecht in allen Eheangelegenheiten. Bis dahin verwaltete der Mann das von seiner Frau in die Ehe eingebrachte Vermögen und verfügte allein über das Geld aus einer Erwerbstätigkeit der Ehefrau. In diesem Gesetz von 1957/58 wurden auch zum ersten Mal die väterlichen Vorrechte bei der Kindererziehung eingeschränkt und erst 1979 vollständig beseitigt. Erst seit 1977 gibt es keine gesetzlich vorgeschriebene Aufgabenteilung mehr in der Ehe.“ 

 

Es herrschten demnach Machtverhältnisse zwischen Eheleuten, die aus heutiger Sicht kaum zu glauben sind. Blicken wir noch tiefer in die Vergangenheit! Thematisiert wurden die allgemeinen Menschenrechte und die Gleichstellung für Frauen erstmals im Zeitalter der Aufklärung. Davor, so scheint es, war die Hierarchie zwischen Mann und Frau ein Naturgesetz, das kein Mensch ernsthaft infrage gestellt hätte. Zum ersten Mal tatsächlich gerüttelt wurde am Vorrecht des Mannes auf Bildung und gesellschaftliche Teilhabe dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die entscheidenden Schritte für ein gleichberechtigtes Familienleben geschahen jedoch erst Jahrzehnte später, nämlich in den 1970er Jahren!

 

Warum eigentlich galt die Ungleichbehandlung von Frauen die längste Zeit als eine Selbstverständlichkeit? Wenn wir nach tieferen Ursachen fragen, so genügt es nicht, diese in der unaufgeklärten europäischen Kultur und im Christentum zu vermuten. Sicher kommt den christlichen Kirchen ein überaus prägender Einfluss auf das moralische Verständnis des Abendlandes zu. Doch, wie der Blick auf die anderen Weltreligionen, den Islam und die östlichen Formen von Buddhismus und Hinduismus verrät, schreiben auch diese Religionen in ihrer traditionellen Form der Frau eine untergeordnete Rolle zu. Und nicht nur die Gesellschaften in Europa und Asien, sondern auch die meisten Völker Afrikas und die ursprünglichen amerikanischen Kulturen der Azteken und Inkas waren männlich dominierte Gesellschaften. Dazu meint der Historiker Noah Harari: „Spätestens seit der landwirtschaftlichen Revolution haben menschliche Gesellschaften Männern einen höheren Stellenwert beigemessen als Frauen. Egal wie sie "Mann" und "Frau" im Einzelnen definierten - es war immer besser, ein Mann zu sein. Das meinen Wissenschaftler, wenn sie von "patriarchalen Gesellschaften" oder dem "Patriarchat" sprechen.“ 

 

Wenn wir das Rad der Zeit wenige Jahrzehnte zurückdrehen, so findet sich praktisch rund um den Globus ein hierarchisches Gefälle von Mann zu Frau. Fast überall wird männlicher Nachwuchs und werden männliche Eigenschaften höher geschätzt. Männer sind es, die besitzen, entscheiden und repräsentieren. Frauen kommt im Vergleich weniger Recht, Bewegungsfreiheit und Autonomie zu. Was könnte der Grund dafür sein? 

 

Da das Patriarchat kein Phänomen einer bestimmten Kultur ist, könnte die Vorherrschaft des Mannes biologisch bedingt sein. Ein solcher Unterschied zwischen Frau und Mann findet sich  in der physischen Kraft und in der Wirkung des Hormons Testosteron. Kraft und Kampfbereitschaft sind entscheidende Faktoren im Tierreich, um Dominanz zu begründen. Auch für das menschliche Zusammenleben gilt, dass es in vergangenen Zeiten von Gewalt und häufig auch sexueller Gewalt geprägt war.  Zwar mussten Frauen schwere körperliche Arbeit leisten, doch in Hinblick auf Gewalt waren sie in der Regel wehrlos und schutzbedürftig. Um diesen Schutz zu finden, so könnte eine Erklärung lauten, wurde die Frau zum Eigentum des Mannes, des Gatten, Vaters oder Bruders. Bezeichnend für ein solches Eigentumsdenken ist der Codex Hammurapi, eine in Keilschrift übermittelte Rechtsordnung aus dem 18. Jahrhundert vor Christus. Sie entstammt dem antiken Mesopotamien, einem Großreich in der Gegend von Irak, Iran und Syrien. Es wird angenommen, dass der Codex das Zusammenleben Hunderttausender Menschen regelte. Vermutlich handelt es sich dabei um einen Katalog richterlicher Entscheidungen,  etwa 300 an der Zahl, des Herrschers Hammurapi. Vielfach in Stein gemeisselt dienten sie späteren Generationen als Vorbild zur Rechtsprechung. Im Prolog des Textes heißt es: „...um das Recht im Lande zur Geltung zu bringen, den Schlechten und Bösen zu vernichten, damit der Starke dem Schwachen nicht schade“. Aufschlussreich zur Stellung der Frau sind die Gesetze 209-214: 

 

  • Gesetzt, ein Mann hat eine Freigeborene geschlagen und sie hat dadurch ihre Leibesfrucht verloren, so wird er 10 Schekel Silber für ihre Leibesfrucht zahlen. Gesetzt dieselbe Frau stirbt, dann wird man seine Tochter töten. 
  • Gesetzt, ein Mann hat eine Gemeine geschlagen und sie hat dadurch ihre Leibesfrucht verloren, so wird er 5 Schekel Silber für ihre Leibesfrucht zahlen. Gesetzt, dieselbe Frau stirbt, so wird er 30 Schekel Silber zahlen. 
  • Gesetzt, ein Mann hat eine Sklavin geschlagen und sie hat dadurch ihre Leibesfrucht verloren, so wird er 2 Schekel Silber zahlen. Gesetzt, dieselbe Frau stirbt, so wird er 20 Schekel Silber zahlen. 

 

Abgesehen davon, dass es Hammurapi fern stand, gleiche Menschenrechte zu verkünden, wird ersichtlich, dass selbst die freigeborene Frau als Eigentum des Mannes betrachtet wird. Denn das Gesetz lässt den Mörder einer freigeborenen Frau persönlich ungeschoren und nimmt ihm stattdessen ein gleichwertiges Eigentum, nämlich die eigene Tochter. Im Alten Testament, der heiligen Schrift des Judentums, findet sich eine ebenso bezeichnende Stelle: „Wenn jemand eine Jungfrau trifft, die nicht verlobt ist, und ergreift sie und wohnt ihr bei und wird dabei betroffen, so soll, der ihr beigewohnt hat, ihrem Vater fünfzig Silberstücke geben und soll sie zur Frau haben, weil er ihr Gewalt angetan hat; er darf sie nicht entlassen sein Leben lang.“ Das Gesetz dient dem Schutz von Frauen, indem es den Gewalttäter lebenslang verpflichtet, sein Opfer dann auch als Ehefrau zu nehmen. Ohne solche Gesetze wären Frauen in noch höherem Maße Willkür und Gewalt ausgesetzt gewesen. Innerhalb von Verlobung und Ehe galt die Vorstellung von Vergewaltigung jedoch als widersinnig, „genauso unlogisch wie die Vorstellung, der Mann habe seinen eigenen Geldbeutel gestohlen“, meint Noah Harari. Der Vergleich mag übertrieben erscheinen, doch wurde  in Österreich die Vergewaltigung oder geschlechtliche Nötigung in der Ehe erst 1989 zu einem strafbaren Tatbestand! 

 

Ausgehend von der physischen Unterlegenheit der Frauen könnten sich patriarchale Strukturen auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausgedehnt und zum typischen Bild der Marginalisierung von Frauen geführt haben. Doch lassen sich Einwände gegen die These von geringerer Kraft und Kampfbereitschaft anführen. Im Laufe der Kulturgeschichte vergrößern und differenzieren sich Gesellschaften zu immer komplexeren Bereichen von Wirtschaft, Verwaltung, Recht, Religion, Politik, Kultur, Schulwesen, Medizin. Kraft und Kampfbereitschaft erfüllen in all diesen Bereichen keinerlei Zweck. Dennoch wird die Hierarchie von Mann und Frau überall beibehalten. Schlussendlich endet das Patriarchat aber doch. Nun zeigt sich, dass Frauen für alle anspruchsvollen Funktionen des wirtschaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen Lebens genauso geeignet sind wie Männer. Weshalb aber sollte diese Erkenntnis so neu sein und allen früheren Generationen, von China über Indien bis Europa, so viele Jahrhunderte entgangen sein? 

 

Betrachten wir einmal jene wenigen Gesellschaften, wo das Zusammenleben keine deutlich patriarchalen Züge besitzt. Denn nicht überall herrschte das männliche Geschlecht. Vereinzelt gab und gibt es materiachale Kulturen, beispielsweise die Hopi in Nordamerika, die Khasi in Indien oder die Miangkabau auf Sumatra, die mit etwa fünf Millionen Angehörigen die weltweit größte matriarchale Gesellschaften stellen. Zwar zeigen diese Matriarchate kein Gegenstück zu patriarchalen Machtstrukturen, häufig aber ein Zusammenleben, wo keines der Geschlechter dominiert. Der Ethnologe André Gingrich nennt dazu eine aufschlussreiche Beobachtung. Gingrich spricht in Zusammenhang mit diesen matriarchalen Völkern von Gartenbaugesellschaften. Der Grund, weshalb derartige Gesellschaften ihre Konflikte weniger oft mithilfe physischer Gewalt austrugen, liegt für Gingrich weniger in ihren sozialen Strukturen, sondern eher an der Lebensform als Gartenbaugesellschaft: Extensive Bewirtschaftung bedeute auch Streit um Land und Wasser, damit Sorge vor Plünderungen und Krieg. Gartenbaugesellschaften aber fehle diese Notwendigkeit zu einer vergleichbar wehrhaften Gesinnung. 

 

Doch, wie gesagt, kann die These der Wehrhaftigkeit kaum begründen, wieso patriarchale Strukturen beibehalten werden, wenn eine Gesellschaft sich in viele Bereiche differenziert. Ja, nicht einmal für den militärischen Bereich gibt es die Notwendigkeit, dass das leitende Personal große Körperkraft und Gewaltbereitschaft besitzt. Es wird aber auch die Beobachtung genannt, wonach matriarchale Gesellschaften in der Regel keine Landwirtschaft im großen Stil betreiben. Dies trifft sich mit einer weiteren Beobachtung. Früheste Berichte von Missionaren zur ursprünglichen Lebensweise der Jäger und Sammlerkulturen, von den Aborigines in Australien über die Pygmäen in Afrika bis zu den Inuit am Polarkreis bestätigen zumeist recht ausgewogene Verhältnisse zwischen Frauen und Männern. 

 

Wir finden demnach einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Betreiben von Landwirtschaft und der Etablierung patriarchaler Machtverhältnisse. Welche Veränderungen brachte die neue Lebensweise, Landwirtschaft zu betreiben, gegenüber dem Leben der nicht sesshaften Völker? 

 

  • Für Noah Harari scheint fraglich, ob die Menschen zu größerer Lebensqualität finden. Die Bauernfamilien müssen wesentlich härter arbeiten als ihre Vorfahren, ernähren sich zugleich viel einseitiger und werden dadurch anfälliger für Krankheiten. Anders als Jäger und Sammler müssen sie sich vor Dürre, Überschwemmung und auch Kriegen sorgen. 
  • Ein mit Landwirtschaft zumeist verbundenes Charakteristikum ist das Eigentum, der persönliche Besitz. Übereinstimmend wird von Jäger- und Sammlerkulturen berichtet, Eigentumsdenken wäre eher unbedeutend, zumal diese Menschen aufgrund der nomadischen Lebensweise nur das Notwendigste mit sich transportieren. Alles Wesentliche gehört der Sippe. Mit der Sesshaftigkeit und dem Bestellen von Feldern wird jedoch ein grundsätzlich neues Denken erforderlich. 
  • Ausgehend von einem für Jäger und Sammler charakteristischen animistischen Verhältnis zur Wirklichkeit kommt es zur Bildung von Religionen, die für die ständig wachsenden Gemeinschaften sämtliche Lebensbereiche regeln und steuern. Sie ordnen die Belange des Eigentums ebenso wie das Zusammenleben der Geschlechter. Das Betreiben von Landwirtschaft bringt zudem die Notwendigkeit, Zahl- und Schriftsysteme zu entwickeln, um Vereinbarungen und Gesetze zu verschriftlichen. 
  • Allgemein scheint es für solche Königreiche ein Naturgesetz, dass die Herrschenden die Überschüsse der Landwirtschaft für sich beanspruchten. Überall wird die einfache Bevölkerung für ein bisschen Schutz und Rechtsprechung ausgebeutet und muss ein karges Dasein fristen.
  • Der vermutlich entscheidende Faktor, weshalb die Jahrtausende der landwirtschaftlichen Revolution der Frau die untergeordnete Rolle brachten, ist jedoch Folgender: Mit dem bäuerlichen Leben entsteht die Möglichkeit, eine große Kinderschar durchzubringen. Mit dem Betreiben von Landwirtschaft kommt es zu einem rasanten Anstieg der menschlichen Population. 

Eine landwirtschaftliche Nahrungsmittelproduktion erzeugt in den meisten Jahren kräftige Überschüsse. Das ermöglichte Bevölkerungswachstum kann als das herausragende Charakteristikum landwirtschaftlich geprägter Gesellschaften gelten. Noah Harari schreibt in seinem Bestseller über die Menschheitsgeschichte: „Vor 12000 Jahren, vor Beginn der landwirtschaftlichen Revolution, zogen rund 5 bis 8 Millionen Wildbeuter als Nomaden über den Planeten. Zu Beginn der modernen Zeitrechnung lebten noch immer 1 bis 2 Millionen Jäger und Sammler auf der Erde (vor allem in Afrika, Amerika und Asien), doch neben den etwa 250 Millionen Bauern war diese Zahl zu vernachlässigen.“ Zudem bedeutet Landwirtschaft, die Besiedelung, die ein Stück Land erlaubt, ungefähr um den Faktor zehn zu erhöhen. Da traditionelle menschliche Gesellschaften von Natur aus darauf ausgerichtet sind, ihren Fortbestand gegenüber harten Lebensbedingungen  durch eine hohe Kinderzahl zu sichern, ist der Siegeszug der Landwirtschaft unaufhaltsam. Dies meint aber keine strenge Kosten-Nutzen-Rechnung, sondern einen Übergang, der von kulturellen und religiösen Überzeugungen begleitet wird. Vorstellungen, die den Wunsch nach maximalen Bevölkerungswachstum zum Ausdruck bringen. So lautet der Auftrag Gottes an die Menschen im Alten Testament: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und macht sie euch untertan.“ Eine hohe Kinderzahl hat eine noch höhere Geburtenrate zur Voraussetzung. Historikern zufolge erreichte bis ins 20. Jahrhundert ein Viertel bis ein Drittel der Kinder in bäuerlichen Gesellschaften nie das Erwachsenenalter. Zumeist erlagen sie Kinderkrankheiten wie Diphtherie, Masern oder Pocken. 

 

Damit zur Rolle der Frau: Ein Kind zur Welt zu bringen bedeutete in vergangenen Zeiten auch ein beträchtliches Risiko für die Gebärende. Bei Komplikationen holten die Hebammen den Priester für spirituellen Beistand beziehungsweise einen Schamanen für Beschwörungen. Zwar sind keine Zahlen zur Müttersterblichkeit verfügbar, doch scheint eine Schätzung von drei Prozent auf hundert Geburten der Realität nahe zu kommen. Bis ins Europa des 19. Jahrhunderts war echte medizinische Hilfe kaum möglich. Erst Ignaz Semmelweis erkannte um 1850 die nicht desinfizierten Hände der Ärzte als häufige Ursache des Kindbettfiebers, wodurch es gelang, die enorme Sterblichkeitsrate der Mütter, die in die Kliniken mussten, nachhaltig zu senken. 

 

Frauen sind es, die die alleinige Leistung der Geburt erbringen müssen. Auch die hauptsächliche Leistung der Kinderbetreuung lag bei Frauen – oft ist das bis heute so. Können wir hieraus einen Zusammenhang mit dem geringen Selbstbestimmungsrecht, das Frauen in den meisten landwirtschaftlichen Gesellschaften zugestanden wurde, ableiten? Es ist gut möglich, dass das bäuerliche Leben den gesellschaftlichen, „moralischen“ Wunsch nach einer hohen Kinderzahl intensivierte - so wie dies das Alte Testament als Wunsch Gottes verlautbart. Der regelmäßig produzierte Nahrungsüberschuss und der Bedarf an billigen Kräften zur Arbeit und zum Schutz des Eigentums unterstützen diese Annahme. Dieser Wunsch nach einer hohen Geburtenrate könnte Ausdruck in den religiös vermittelten Moralen gefunden und zu den patriarchalen Normen geführt haben. 

 

Wir können jedoch nur darüber spekulieren, was Frauen in vergangenen Zeiten empfanden, wenn sie neben dem Mühsal der Landwirtschaft pausenlos Kinder austragen und nicht selten in großer Armut versorgen mussten. Bedurfte es der patriarchal legitimierten Herrschaft, um sie zu acht und mehr Schwangerschaften zu nötigen? Einen deutlichen Hinweis erhalten wir durch die traditionelle Moral der Sexualität. In der traditionellen christlichen Moral und ebenso in den anderen Sexualmoralen scheint eine Tabuisierung der Lust und Freude an Sexualität allgegenwärtig. Dabei ist es besonders die weibliche Lust, die verpönt, mitunter sogar als Teufelswerk diffamiert wird. Die sensible Bereitschaft der Frau spielt aus Sicht dieser Moralen für die eheliche Sexualität eine nur geringe Rolle, so scheint es. Was könnte der Grund dafür sein? Lässt sich annehmen, dass Frauen, die bereits mehrere Kinder unter harten Bedingungen durchbringen müssen und mit jeder weiteren Geburt ein beträchtliches Risiko auf sich nehmen, wenig Bereitschaft empfinden? Doch scheint es, als wäre diese innere Bereitschaft der Frau zur Sexualität auch kaum gewünscht, wird doch Sexualität vielmehr als eheliche Pflicht ausgelegt. Zweitens gibt es natürlich Formen der Verhütung sowie Formen der Sexualität wie beispielsweise Selbstbefriedigung, die nicht zur Schwangerschaft führen. Vermutlich lässt sich hier zeigen, dass sämtliche Formen - wenn auch nicht immer und überall, aber doch überwiegend - für sündig erklärt und tabuisiert wurden.  (2)

 

Die tristen Bedingungen des bäuerlichen Lebens prägen die Geschichte der Menschheit zumindest bis ins 18. Jahrhundert: Fast überall ist die Bevölkerung, abgesehen von einer verschwindend kleinen Minderheit von Herrschern und Großgrundbesitzern, extrem arm und lebt von der Landwirtschaft. Seuchen wie Pest, Masern, Pocken, Perioden von chronischem Hunger und Hungerkatastrophen aufgrund von Wetterkapriolen sowie Gewaltkonflikte führen dazu, dass sich der Lebensstandard der bäuerlichen Gesellschaften nicht nachhaltig verbessern kann. Vermutlich braucht es nicht viel, um die Geschichte des Bauernstandes bis zur Industriellen Revolution zu erzählen. Denn bis dahin fehlen weitgehend alle technischen Neuerungen.

 

Erst mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wird eine Alternative und ein Ausbruch aus dem bäuerlichen Leben überhaupt möglich. Für ein Land wie Bangladesch, wo noch in den 1970ern die Geburtenrate bei durchschnittlich über 7 Kindern und die Säuglingssterblichkeit im ersten Lebensjahr bei fast fünfzehn Prozent lag, begann die Industrialisierung überhaupt erst vor zwei Jahrzehnten. Und auch die Arbeitsbedingungen, die Millionen Frauen in Bangladesch in der Textilindustrie erfahren, sind heute kaum besser als jene, die das Industrieproletariat des 19. Jahrhunderts vorfand: Stundenlange Wege, zwölfstündige Arbeitstage, Niedrigstlöhne, keinerlei Rechte, Willkür der Vorgesetzten, katastrophale Sicherheitsbedingungen. Dennoch sollten wir die Entwicklung nicht vorschnell verurteilen. Trotz aller berechtigten Kritik und den fehlenden Schutzmaßnahmen, die nur langsam verbessert werden, betrachten zumindest Ökonomen wie Jeffrey Sachs das Schicksal dieser Frauen als vergleichsweise erfreulich. Sachs berichtet von Interviews, in denen die zumeist jungen Frauen beteuerten, dass diese Arbeit die größte Chance sei, die sie sich je erträumt hatten. Er schreibt: 

„Fast alle interviewten Frauen waren auf dem Land aufgewachsen, in extremer Armut, sie hatten nie eine Schule besucht und waren langen Hungerperioden und den Härten einer tyrannischen patriarchalischen Gesellschaft ausgesetzt. Wären sie (und ihre Eltern in den siebziger und achtziger Jahren) in den Dörfern geblieben, hätte man sie zu einer von den Vätern arrangierten Hochzeit und mit siebzehn oder achtzehn Jahren zu einer Schwangerschaft gezwungen. Ihre Wanderungen in die Städte, um dort zu arbeiten, gab diesen jungen Frauen die Chance einer persönlichen Befreiung von beispiellosen Ausmaßen und Möglichkeiten. 

Die interviewten Frauen erzählten, dass sie in der Lage seien, einen geringen Betrag ihres kargen Lohns zu sparen, dass sie über das verdiente Geld selbst verfügen könnten, ein eigenes Zimmer hätten, selbst darüber entschieden, mit wem sie sich trafen und wen sie heirateten, selbst darüber entschieden, wann sie Kinder haben wollten (…).“

 

Die industrielle Revolution führt zu enormen Wirtschaftswachstum. Die industrialisierte Landwirtschaft, die neuen Hochertragsgetreidesorten schaffen gemeinsam mit einer verringerten Kindersterblichkeit und einer deutlich steigenden Lebenserwartung die Bedingungen für ein explosives Bevölkerungswachstum. Bevölkerten um 1700 zirka 700 Millionen Menschen die Erde, sind es inzwischen weit über 7 Milliarden. Noch vor wenigen Jahren galt dieses rasante Bevölkerungswachstum als globales Problem und bot Anlass für düstere Prognosen. Doch beginnt sich das Blatt zu wenden. Reiner Klingholz, Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, schreibt: „In praktisch allen Nationen sinken die Kinderzahlen; über die Hälfte der Menschheit lebt bereits in Ländern, in denen die Nachwuchszahlen so niedrig sind, dass mittelfristig kein Bevölkerungswachstum mehr zu erwarten ist. Demografen erwarten, dass die Zahl der Menschen in einigen Jahrzehnten ihr Maximum erreicht und danach sinkt.“ 

 

Komplexe Phänomene wie der demografische Wandel lassen sich nicht monokausal erklären. Wollte man ihn durch die Einführung zuverlässiger Verhütungsmittel wie die Pille in den 1960ern erklären, so zeigt sich, dass der Geburtenrückgang in vielen Ländern, etwa Japan, genauso begann, obgleich dort kein solches Verhütungsmittel erhältlich war. Was den Einfluss von Wohlstand betrifft, ist dieser jedoch unbestreitbar: Wo der Wohlstand wächst, sinken die Nachwuchszahlen. Als Paradoxon formuliert: Je besser es den Menschen geht und je mehr Kinder sie sich eigentlich leisten könnten, umso weniger haben sie. So lautet nach Reiner Klingholz das demografisch-ökonomische Paradoxon. Doch gilt ebenso, dass die gesellschaftliche Entwicklung hin zu weniger Kindern so leicht nicht umkehrbar ist und die Kinderzahlen auch aufgrund ökonomischer Krisen, wie sie etwa der Ukraine, Griechenland oder Moldawien zu schaffen machen, nicht wieder zu steigen beginnt. Es lässt sich daher ein grundlegender Wandel im gesellschaftlichen Denken industrialisierter Länder vermuten, nämlich die irreversible Auflösung hierarchischer Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Ermöglicht wird dieser Wandel vermutlich aufgrund derselben Faktoren, die das gesellschaftliche Streben nach hoher Fruchtbarkeit mindern: Wohlstand, ein modernes Versicherungswesen, eine drastisch verringerte Kindersterblichkeit, veränderte Bedürfnisse der neu entstandenen Arbeiterschicht, Ächtung der Kinderarbeit. 

 

Mit der gesellschaftlichen Akzeptanz des Rückgangs der Kinderzahlen erhalten Frauen den Zugang zu Bildung und Berufsmöglichkeiten und nachdem sie höhere Bildung und berufliche Möglichkeiten besitzen, gebären sie deutlich weniger Kinder. Dieser Zusammenhang lässt sich belegen, und zwar nicht nur für die industrialisierten Nationen, sondern weltweit. Nach Peter Singer gilt die Faustregel, dass Frauen, die einen Schulabschluss haben, zwischen 30 und 50 Prozent weniger Kinder gebären als Frauen ohne jede Schulbildung. Für manche Schwellenländer liegt der Prozentsatz noch höher. Etwa verringerte sich die Geburtenrate in Bangladesch, wo Millionen Frauen Jobs in der Textilindustrie finden, von durchschnittlich sieben Kinder pro Frau in den Siebzigern auf nunmehr kaum mehr als zwei! (3)

  

In den westlichen Gesellschaften fällt in den 1960er Jahren, Hand in Hand mit der Akzeptanz niedriger Geburtenzahlen, nach Jahrhunderten der Schleier der Tabuisierung weiblicher Selbstbestimmung und Sexualität. Über weibliche Sexualität und sexuelle Bedürfnisse wird von nun an gesprochen. (4)  Anfang der 1970er zeitigt die gesellschaftliche Akzeptanz einer niedrigen Kinderzahl eine wichtige juristische Konsequenz. In Österreich kommt es, politisch durch die Stimmen der SPÖ, zur Straffreiheit für den Schwangerschaftsabbruch während der ersten drei Monate, zur so genannte Fristenlösung. Die Bewegung wird maßgeblich von Frauen getragen und als emanzipatorischer Schritt in Zusammenhang mit ungewollten Schwangerschaften verstanden.

 

Bevor wir auf den Schwangerschaftsabbruch eingehen, wollen wir die Frage nach dem Kinderwunsch näher betrachten. Wie steht es um die bereits sehr wohlhabenden und vergleichsweise emanzipierten Ländern wie etwa Österreich, die nunmehr mit sinkenden Bevölkerungszahlen konfrontiert sind? Die Frage sei gestattet: Braucht es für die auf Luxus, individuelle Entfaltung und Karriere fixierten Menschen ein wenig „Rücksteuerung“ und Besinnung auf ein traditionelles Familienbild, um zumindest den Bestand der Bevölkerung zu sichern? Auch der Demograf Reiner Klingholz machte sich dazu Gedanken: Überall, wo sich vorindustrielle, agrarische Gesellschaften zu modernen Lebensformen entwickeln, schreibt er, findet sich der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Erfolg und sinkenden Kinderzahlen, mithin das demographisch-ökonomische Paradoxon. Näher bezog sich dieser Zusammenhang in den 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf Kinderzahlen und Frauenerwerbsquote der Länder westlich des Eisernen Vorhangs. Nach Klingholz bestätigen die Statistiken der 70er und 80er Jahre durchaus für jene europäischen Länder, in denen viele Frauen erwerbstätig waren, also nordische Länder wie Dänemark, Schweden, Finnland, Norwegen, tendenziell niedrige Kinderzahlen. Dagegen kamen Länder, die einem konservativen und katholischen Familienmodel anhingen, etwa Irland, Spanien, Portugal, im Durchschnitt auf vergleichsweise höhere Zahlen. Letztere hatten zu jener Zeit noch kein Problem damit, eine bestandserhaltende Kinderschar in die Welt zu setzen.

 

 

Lesen wir jedoch, was Klingholz weiter schreibt: „Doch diese Ordnung gilt längst nicht mehr. Mittlerweile hat sich der Zusammenhang zwischen Frauenerwerbsquote und Kinderzahlen auf den Kopf gestellt. Heute bekommen die Frauen Westeuropas tendenziell dort die meisten Kinder, wo sie auch am häufigsten einen Job haben. Dies ist beispielsweise in den nordischen Ländern der Fall. Dort liegt die Fertilitätsrate bei rund zwei Kindern. Island hat sogar die mit Abstand höchste Frauenerwerbsquote und gleichzeitig die höchsten Kinderzahlen in Europa. Dies sind auch jene Länder, in denen die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern am weitesten fortgeschritten ist und wo es den höchsten Wohlstand und die sichersten Sozialsysteme gibt. Dort aber, wo Frauen seltener erwerbstätig sind – im weitaus ärmeren Spanien, in Griechenland oder Italien -, wo sie also theoretisch viel leichter am Herd stehen und Kinder versorgen können, dort bekommen sie die wenigsten Kinder. Dies bedeutet, dass sich das ökonomisch-demografische Paradoxon mit fortschreitender Entwicklung wieder auflöst.“

 

Dies sollte nicht überraschen, handelt es sich doch um einen vernünftigen Zusammenhang. Klingholz: "Die meisten jungen Menschen wünschen sich nach wie vor Kinder. Sie wollen sich aber auch beruflich verwirklichen. Wo sie beides leicht unter einen Hut bringen können, liegen die Kinderzahlen höher. Wo die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hingegen eher schwierig ist, fallen sie entsprechend niedriger aus." Wir können aus diesem Befund drei Forderungen ableiten, um die gesellschaftliche Gleichberechtigung von Menschen, die Kleinkinder versorgen müssen, zu unterstützen. 

 

  • Einmal braucht es die freie Entscheidungsmöglichkeit für Frauen, ob sie eigene Kinder wollen oder nicht. Gesellschaftliche Wertvorstellungen und Rollenerwartungen prägen unser Selbstverständnis und beeinflussen unsere Konzeption eines guten Lebens. Damit Frauen autonom befinden können, was für sie wünschenswert ist, braucht es ein Umfeld, das keine Präferenzen aufzwingt.
  • Zweitens ist die väterliche Bereitschaft zu fordern, einen gerechten Anteil der Kinderbetreuung zu leisten.
  • Frauen, die sich für Kinder entscheiden, erfahren Nachteile für ihre berufliche Karriere. Um Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu gewährleisten, müssen diese Unterschiede berücksichtigt werden. Gleichheit bedeutet demnach einen fairen Ausgleich für Menschen, die Kleinkinder betreuen und deren berufliche Biografien sich insofern von anderen unterscheiden.  

 

Damit zum Schwangerschaftsabbruch in seiner moralischen Implikation. Ein diesbezüglicher Slogan, mit dem Frauen in den 1970ern für die Fristenlösung eintraten, lautete: Mein Bauch gehört mir! Der Philosoph Peter Singer gibt einem solchen Slogan die philosophische Übersetzung. Nach Peter Singer wiegen die reinen Bedürfnisinteressen des Fötus geringer als die Wünsche und Perspektiven der Eltern, die eine Abtreibung wollen. Dies gilt, da für Singer nicht zählt, was das Lebewesen einmal in Zukunft sein könnte, sondern lediglich sein momentaner Status. Aus den unterschiedlichen kognitiven Möglichkeiten folgt der unterschiedlichen Wert von Lebewesen. Wichtig dabei: Ein Lebewesen mit Interessen wird durch den Tod stärker frustriert als eines, das keinen Zukunftshorizont besitzt. Da Föten nicht in der Lage sind, sich ihre Zukunft auszumalen, werden ihre Interessen bei der Tötung nicht in vergleichbarer Weise frustriert. Die Tötung von Föten lässt sich somit nach Singer moralisch rechtfertigen. 

 

Bekanntlich sieht die katholische Kirche den Schwangerschaftsabbruch eindeutig als unrechtmäßig an, da dem menschlichen Leben von Beginn an Heiligkeit zugesprochen wird. Die österreichische Bischofskonferenz formulierte dazu im November 2009: "Weil die Kirche auf Seite des Lebens steht, das von seiner Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende nicht in der Verfügungsmacht des Menschen liege, bleibt es ihre Aufgabe, die Stimme für das Leben zu erheben und sich insbesondere für die Schwachen einzusetzen. Durch Abtreibung wird ein schutzloser Mensch getötet, übersehen wird oft, dass auch die Mutter dabei Gewalt erfährt und sich gegen ihr Kind stellen muss. Eine rechtliche Regelung, die Abtreibung legalisiert oder ermöglicht, kann daher nie die Zustimmung der katholischen Kirche finden."

 

Vermutlich ist es zumeist nicht (relative) Armut, die zu einem Schwangerschaftsabbruch veranlasst, sondern es sind Gründe, die mit der Lebensplanung zu tun haben. Naturgemäß werden sich diese Gründe oft kaum von jenen Faktoren unterscheiden, die bedingen, dass Frauen nur wenige oder gar keine Kinder zur Welt bringen wollen. Wie gezeigt, steht die Bereitschaft von Frauen, Kinder zu bekommen, zunehmend in Zusammenhang mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Hier lässt sich eine grundlegende Veränderung vermuten. War es ursprünglich die Stabilität der Ehe, die Sicherheit gab und zu Schwangerschaften stehen ließ, selbst wenn diese nicht immer gewollt waren, so trifft dies für ökonomisch unabhängigere Partnerschaften nicht mehr in gleicher Weise zu. Im Gegenteil fällt es nun begreiflicherweise leichter, zu einer ungewollten Schwangerschaft zu stehen, wenn zum Eheleben alternative Szenarien keine gesellschaftliche Missachtung nach sich ziehen und ungewollte Partnerschaften beendet werden dürfen. Diese Entwicklung spiegelt sich in den Zahlen unehelicher Kinder und nichtehelicher Partnerschaften, alleinerziehender Mütter und Scheidungen. Doch ist dies nicht automatisch zum Schaden der Kinder. Die gesellschaftliche Missachtung von Scheidungen hatte ursprünglich kaum eine partnerschaftliche Erziehung zum Ziel, da die Kinderbetreuung traditionell ganz zur Frauensache erklärt wurde. Vielmehr sollte die Stabilität der Ehe die ökonomische Sicherheit für Frau und Kind garantieren. Mit der Möglichkeit zur Berufstätigkeit werden Frauen dank ihres Einkommens unabhängiger von der männlichen Versorgungsleistung. So gehen Beziehungen, die nicht mehr auf Liebe gründen, wesentlich leichter in die Brüche. Ob das folgende getrennte Leben der Eltern dann zum Vor- oder Nachteil der gemeinsamen Kinder ist, lässt sich nicht pauschal beantworten. Insgesamt erhöht die gesellschaftliche Entwicklung zu mehr Freiheit und Gleichberechtigung jedoch die Wahrscheinlichkeit für Kinder, liebevolle Zuwendung durch beide Elternteile zu erfahren. So folgt aus der Akzeptanz alternativer Familienkonstellationen die Notwendigkeit, die Vater-Kind-Beziehung viel stärker einzufordern, als dies früher der Fall war. (5)(6)

 

Das Patriarchat wurde in seiner historischen Entwicklung behandelt. Es hat sich gezeigt, dass mit dem durch die Industrialisierung erwirkten Wohlstand der Anspruch auf Gleichberechtigung unbestreitbar und kategorisch wurde. Mit Wohlstand und vermindertem Geburtendruck wurde zunächst der westlichen Welt deutlich, dass der vorhandene Grad an Gleichberechtigung nicht den Bedürfnissen der Menschen und dem Prinzip der Gerechtigkeit entspricht. Besonders wenn Länder größeren Wohlstand erwirtschaften, die Landwirtschaft industrialisieren und die Geburtenrate senken, ist die Ungleichbehandlung der Geschlechter inakzeptabel. 

 

Doch auch ärmere Gesellschaften müssen den Frauen mehr Rechte zugestehen. Auch in Ländern wie Indien, wo aus westlicher Sicht eine extreme Diskriminierung von Frauen herrscht, wird diese mit fortschreitenden Modernisierung von manchen indischen Gesellschaftsschichten zunehmend kritisch thematisiert. Der staatliche Druck, die demographische Katastrophe abzuwenden, führte in dem patriarchal geprägten Land zu massenhaften strategischen Abtreibungen, um einen männlichen Nachwuchs zu erhalten. Für große Teile Indiens ist die Rede von 30 bis 50 Abtreibungen gegenüber 100 Geburten.  In weiten Teilen des Landes kommen daher heute 120 und mehr Buben auf 100 Mädchen. Dies scheint eine indirekte Folge des staatlichen Zwangs zu nur einem Kind zu sein, dem ein gesellschaftliches Umdenken, das Frauen und Männer als gleichwertig nimmt, nur langsam folgt. Es gilt jedoch, die gelebte Moral den Problemstellungen und veränderten ökonomischen und ökologischen Bedingungen schnell und sinnvoll anzupassen. 1980 trat zur allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung für die Frau, die seither von 189 Staaten unterschrieben wurde.

 

Schwere körperliche Arbeit und die Bedrohung durch Gewaltkonflikte werden hoffentlich weiter an Bedeutung verlieren, Eigenschaften wie  fürsorglichen Anteilnahme und Empathie dagegen gewinnen. Statistiken zeigen, dass weite Teile der Welt in den letzten Jahrzehnten zu einem weitaus friedlicheren Ort geworden sind. Was Gewaltverbrechen angeht, erleben große Teile der Menschheit die vermutlich friedlichste Epoche ihrer Geschichte. Maßgeblich dafür sind unterschiedliche Gründe, etwa Wohlstand, Bildung und starke Rechtssysteme. Ein solcher Puzzlestein ergibt sich auch daraus, dass Gesellschaften, die nur wenige Kinder haben, der Erziehung ihrer Kinder mehr Aufmerksamkeit schenken können. Sie schenken ihren Kindern viel mehr Einfühlsamkeit und Hilfestellung. Zudem findet die Bedeutung der Vaterschaft für die kindliche Entwicklung breite gesellschaftliche Anerkennung. Eine liebevolle Erziehung reduziert die Neigung zum Hass und fördert Empathie und Friedfertigkeit besonders auch bei jungen Männern. Längerfristig ist sie das wirksamste Mittel gegen das Fortbestehen von häuslicher Gewalt, Sadismus und Missbrauch.

 

Die Forderung der Emanzipation richtet sich an beide Geschlechter. Natürlich ist es berechtigt, der Gattung Mann - zumindest mit Blick auf die Vergangenheit - höhere Gewaltbereitschaft zuzuschreiben. Sicher gibt es auch kulturelle Relikte, die ein Bemühen der Geschlechter erfordern, spezifischen Schwächen zu begegnen: Männer, die im Familienleben wenig fürsorglich agieren, wenig umsichtig wahrnehmen. Frauen, die vielleicht in den größeren Netzwerken des Berufslebens zu beziehungsorientiert empfinden. Doch sobald wir solche Schwächen automatisch von anderen erwarten, handelt es sich um Vorurteile und Klischees. Und selbst wenn diese Merkmale, bezogen auf alle Männer oder alle Frauen, auch heute noch einen Rest Wahrheit enthalten können, so entsprechen sie zunehmend weniger einer Realität permanenter Veränderungen. 

 

 

 

Anmerkungen

 

 

(2) Ein bedrückendes Beispiel extremer Unterdrückung gibt die vaginale Verstümmelung. In solchen Kulturen werden Mädchen dann mitunter so früh schwanger, dass es zu schweren Verletzungen bei der ersten Geburt kommt.  

 

(3) Weltweit bekommen Frauen im Durchschnitt nur mehr zweieinhalb Kinder. Dennoch wird die Weltbevölkerung aufgrund der steigenden Lebenserwartung auch in den nächsten Jahrzehnten stark anwachsen. Derzeit beträgt das Durchschnittsalter der Weltbevölkerung nur 27 Jahre. Mit steigender Zahl älterer Menschen wird sich die Alterspyramide also zur Würfelform auffüllen. Demografische Prognosen erfüllen sich in der Regel sehr exakt. Wir müssen uns daher auf eine Höchstzahl von über 10 Milliarden, die es in der zweiten Jahrhunderthälfte sein werden, einstellen.

 

(4) Auch die Ächtung der Homosexualität steht vielleicht in Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wunsch nach hoher Fruchtbarkeit und wurde in den vergangenen Jahrzehnten enttabuisiert. Homosexualität existiert in allen Gesellschaften und entspricht somit offenkundig der natürlichen sexuellen Vielfalt. Ihre biologische Funktion scheint in der Harmonisierung der menschlichen Gemeinschaft zu liegen. Indem sie das Konkurrieren um das je andere Geschlecht schwächt, fördert männliche und weibliche Homosexualität die gesellschaftliche Fähigkeit zur Kooperation und damit die wirtschaftliche und kulturelle Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft, so lässt sich annehmen. Auch wenn die Missachtung der Homosexualität in den religiösen Büchern, in Bibel und Koran, kaum festgeschrieben ist, wurde sie dennoch von den religiösen Moralen generalisiert.  

Auch in heutiger Zeit führen beispielsweise in Serbien und Montenegro Versuche, eine Regenbogenparade abzuhalten, zu wütenden Protesten und mitunter zu Gewalt gegen die Teilnehmer. Im Zusammenhang mit Serbiens Wunsch nach Mitgliedschaft in der EU fand 2015 in Belgrad dann doch wieder eine Parade statt, wobei allerdings massiver Polizeischutz für die wenigen Teilnehmer notwendig war. Ein verheerendes Massaker an Homosexuellen fand 2016 in einem Club in Orlando, USA, statt.  

 

(5)  In China ist die Verwendung von Ultraschall zur Feststellung des Geschlechts seit 1996 verboten, doch gebe es seitens der Regierung kaum Bemühungen, das Verbot zu exekutieren, heißt es. Eine bitter anmutende Erklärung könnte lauten, dass das millionenfache Abtreiben weiblicher Föten äußerst effektiv wirkt. Denn das langfristige Wachstum einer Bevölkerung hängt nicht von der Kinderzahl ab, sondern allein von der Zahl der Mädchen. Demgegenüber berichtete die FAZ schon 2013, dass Familien in ländlichen Regionen, deren erstes Kind ein Mädchen ist, ein weiteres Kind bekommen dürfen. Seit Beginn 2016 dürfen alle chinesischen Paare 2 Kinder haben.

 

Anfang der 1960er widerfuhr China die vermutlich größte Hungerkatastrophe in der Geschichte der Menschheit mit Opferzahlen, die zwischen 20 und 43 Millionen liegen. Seit Jahrzehnten sind es jedoch besonders die wirtschaftlichen Fortschritte Chinas, welche die Statistiken zur Welternährung ins Positive wenden und die Zahl der weltweit Hungernden verringern. Verantwortlich für diese erfreuliche Entwicklung ist nicht nur die Abkehr von der gescheiterten Planwirtschaft, sondern auch Chinas Ein-Kind-Politik. Zugleich steht diese Politik einer erzwungenen Familienplanung im schärfsten Kontrast zu den freiheitlichen Menschenrechten. 

 

(6) Menschen, die in Armut leben, verursacht es wesentlich höhere Kosten, moralische Mindeststandards wie etwa die Versorgung ihrer Kinder zu gewährleisten. Besitzen Frauen kaum Einkommen, fehlt ein Netz an Sozialleistungen, können Unterhaltszahlungen von den Vätern nicht problemlos geleistet werden, erhält die Familiengemeinschaft eine besonders wichtige Funktion. Auch kann extreme Armut zu Verbrechen, Missbrauch und Gewalt in kaum fassbaren Ausmaß führen. Große Armut kann sehr rasch das für das gesellschaftliche Leben so wichtige gegenseitige Vertrauen zerstören. Vermutlich sind es Familienstrukturen, welche die wirksamste soziale Kontrolle ausüben, wenn staatlicher Schutz nicht  greift. Vielleicht braucht es aufgrund von Armut mehr Strenge im Sinne klarer Regeln, um Menschen zu disziplinieren, was zu geringeren individuellen Freiheiten führt. Denn es sind überwiegend ärmere Länder, die auf eine strenge Moral pochen. Die zentrale Forderung des Islams nach Gehorsam findet besonders in ärmeren Ländern großen Zuspruch. Ebenso könnte die relative Gewaltfreiheit in indischen Slums mit der rigorosen Pflicht eines Hindus gegenüber seinen Angehörigen und den unverändert bewahrten sozialen Strukturen in den Slums zu tun haben. Auch die Schrift, die Papst Franziskus im Anschluss an die Familiensynode 2016 verfasste, lässt sich als Einsicht interpretieren, dass weltweit unterschiedliche Bedürfnisse existieren. Denn der Papst räumt etwa in der Frage der Ehenichtigkeit und den daraus entstehenden Folgen den Ortskirchen und Bischöfen mehr Eigenständigkeit ein und gesteht ihnen, unter dem Aspekt der Barmherzigkeit, eine größere Spannweite der Auslegung und der Anwendung der kirchlichen Lehre zu. Überhaupt müsse nicht alles durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden, vielmehr sei eine realistische Sicht gefordert, heißt es in seiner Schrift Amoris Laetitia. 

 

 

Literatur: 

Noah Harri: Eine kurze Geschichte der Menschheit ; Pantheon 2015

Herlinde Pauer-Studer: Einführung in die Ethik. Feministische Ethik ; Facultas 2003 (2010)

Rainer Klingholz: Sklaven des Wachstums ; Campus 2015

DerStandard online 07.03.2016: Leben abseits des Patriarchats