Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zeigt, dass Ethik vor der infektiösen Wirkung von Missachtung und Hass warnen muss. Dies gilt besonders, wenn gegen Minderheiten wie beispielsweise Homosexuelle, Muslime, Juden oder Flüchtlinge gehetzt oder Ressentiments gegen „Ungläubige“ geschürt werden. Es ergibt sich die notwendige Konsequenz, uns gegen alle Formen von fremder wie eigener Missachtung und Feindschaft zu wenden. Gerade dies fordert auch der Leitsatz christlicher Ethik: sich zu einer Nächstenliebe zu bekennen, die den Bedürftigen, Missachteten, Fremden, ja sogar den Feinden gilt.  Doch ist dies nicht zwangsläufig ein religiöser Leitsatz. Sich mitfühlend zu verhalten, barmherzig zu sein, benennt ganz einfach die Motivation, die beispielsweise zahllose konfessionslose Menschen bewogen hat, Flüchtlingen zu helfen. Gefragt, warum sie dies getan haben, würden die meisten vermutlich antworten, sie hätten es als ihre Pflicht angesehen. 

 

Doch gibt es einen heiklen Umstand. Wie die Erfahrung lehrt, kann mitfühlendes Empfinden auch benutzt werden, um Menschen auf fragwürdige Weise zu beeinflussen. Nehmen wir als Beispiel eine Zeitung, die eine herzzerreißende Story vom Leid eines kleinen Hündchens auftischt. Vielleicht ist die Geschichte schlicht erlogen und die Zeitung bringt sie nur, um sich als gefühlvoll darzustellen, wogegen sie in sozialen Angelegenheiten harte Ansichten propagiert. Besonders erwecken Gratismedien häufig den Eindruck, durch das Schüren von Empörung Ziele zu verfolgen, die nicht genannt werden, also zu manipulieren. Natürlich sind sich auch Politiker der Macht moralischer Gefühle bewusst. Befinden sie sich in einer Zwickmühle, so können sie klare Antworten vermeiden, indem sie stattdessen den politischen Gegner moralisierend anklagen oder einfach Gefühle ansprechen. Denn wir werden besonders durch die Konfrontation mit Einzelschicksalen emotional ergriffen. Letztlich ist aber das Vermeiden einer klaren Politik hinsichtlich einer moralischen Zwickmühle eine "Auslagerung", die vielleicht dazu führt, dass der politische Gegner zum Zug kommt. Dieser besitzt vielleicht kein solches Zögern, harte Maßnahmen zu ergreifen. Doch gerade diese Härte kann, im Sinne eines Zusammenhangs innerer Eigenschaften, seine mangelnde Integrität und Neigung zur Korruption bedeuten und dem Land großen Schaden zufügen. 

 

Schließlich kann streitnahes Moralisieren – darauf hat Niklas Luhmann hingewiesen – das offene, sachkundige Gespräch und den immer notwendigen gesellschaftlichen Konsens oder Kompromiss zur Lösung komplexer Probleme sabotieren. Wir sollten uns daher um einen geistigen Zustand des Mitgefühls und der Nächstenliebe bemühen, um über komplexe Probleme nachzudenken. Sodann ist Mitgefühl keine solche Emotion, die den Realitätssinn beeinträchtigen würde. Im Gegenteil hilft die Verbindung von Mitgefühl und Nachdenken dabei, einen weiten Blickwinkel zu erlangen und die richtige Motivation zu finden. 

 

 

Sozialkapital

 

In Hinblick auf Wirtschaft hat die Fähigkeit des Vertrauens fundamentale Bedeutung.  Denn eine funktionierende Wirtschaft ist nicht bloß auf Investitionen, Arbeitskräfte und Know-how angewiesen. Darüber hinaus gibt es gesellschaftliche Bedingungen, die uns vielleicht selbstverständlich erscheinen, die aber dennoch grundlegend sind. Wirtschaft braucht den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Fähigkeit zur Kooperation, Steuerehrlichkeit sowie eine gewisse Bereitschaft zur Verteilung des Wohlstands. Wir wollen diese „selbstverständlichen“ Grundlagen in Hinblick auf das Vertrauen untersuchen. 

 

Wohlhabende Nationen verdanken ihren Reichtum sicherlich in hohem Maße der Rechtsstaatlichkeit und Verantwortlichkeit, die sie verwirklichen können. Dies kann im positiven Fall so weit gehen, dass wir etwa gesicherte Eigentumsrechte, eine niedrige Verbrechensrate und unbestechliche Beamte für eine Selbstverständlichkeit erachten. Tatsächlich sind dies aber entscheidende Faktoren, damit Investitionen in die Wirtschaft getätigt werden. Dagegen entstehen dort, wo beispielsweise zahlreiche kleine Beamte bestochen werden müssen, um ein Unternehmen zu gründen, zumeist nur Schwarzmarkt und Schattenwirtschaft. Wo also mittels Geldumschlägen gesetzliche Vorgaben umgangen werden, staatliche Aufträge durch Bestechung lukriert werden, Posten in der Verwaltung an Verwandte gehen, geförderte Wohnungen an Parteigänger verschenkt werden, und so weiter, findet sich das Geflecht der Korruption naturgemäß nicht nur im Staat, sondern auf allen Ebenen der Gesellschaft und fügt dem gesellschaftlichen Vertrauen und der wirtschaftlichen Entfaltung eines Landes unentwegt Schaden zu. Rechtschaffenheit und Verantwortlichkeit liegen einer funktionierenden Marktwirtschaft zugrunde, die dann gemeinsamen Wohlstand schaffen kann. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, kann man von einem „sozialen Kapital“ sprechen, das die Wirtschaft neben gut ausgebildeten Arbeitskräften, Maschinen, Investitionen braucht.   

 

Wissenschaftler können alle möglichen Daten, beispielsweise solche zu Korruption, Regierungsführung und Kriminalität, in ihre Computer eingeben und werden immer Korrelationen mit wirtschaftlichen Entwicklungen feststellen. Im Einzelnen sind diese Zusammenhänge allerdings mit Vorsicht zu beurteilen, da es sich um wechselseitige Wirkungen handelt: Wohlstand erleichtert enorm, sich an Regeln zu halten, ein Verhalten, dass sodann die Wirtschaft stärkt. Korruption schafft dagegen ein Klima, wo niemand investieren will, was zu Armut und noch mehr Gewalt führt. Ein Staat, der schließlich nicht mehr in der Lage ist, die Ernährung seiner Bürger zu sichern, verliert das letzte Vertrauen, was zu ethnischen Konflikten führen kann. Wenn wir das Gesamtbild einer solchen Aufwärts- oder Abwärtsspirale sehen, so ist die Wechselwirkung mit dem sozialen Kapital unübersehbar. 

 

Neben technischer Innovation gelten Investition und Kreditvergabe als wesentliche Düngemittel für eine prosperierende Wirtschaft. Wie der Historiker Noah Harari schreibt, hatte vor Beginn der Neuzeit niemand ausreichendes Vertrauen in die Zukunft, um größere Kredite zu vergeben. Als herrschende Klasse nutzte der Adel und Klerus die landwirtschaftlichen Überschüsse zur Finanzierung von Palästen und Kathedralen, rauschenden Festen und Kriegen, nicht aber, um in eine höhere Produktivität zu investieren. Da aber niemand Lust verspürte, sein Geld zu verleihen, erfolgten keine Unternehmensgründungen und Investitionen, was wiederum die Stagnation der Wirtschaft mit sich brachte. Innerhalb einer weitgehend stagnierenden Wirtschaft bedeutet wirtschaftlicher Erfolg dann zumeist nur, anderen ihren Gewinn wegzunehmen.

 

Erst mit Wissenschaft und technischer Revolution kam der Fortschrittsgedanke und mit ihm das Vertrauen in die Zukunft, das Wirtschaftstreibende ihre Gewinne reinvestieren ließ. Natürlich basiert Kreditvergabe auf Vertrauen zum Kreditnehmer. So wurde es zu einem Kernprinzip der Entwicklungshilfe, Mikrokredite an ganze Gruppen von Frauen zu vergeben, da dies über das Gefühl der Verpflichtung die Rückzahlungsquote erhöht. Volkswirtschaftlich dient das Kreditwesen zudem dafür, den Konsum über Zinsen zu steuern. Hierbei operieren Banken zum allergrößten Teil mit Geld, das sie nicht wirklich besitzen. Der Faktor Vertrauen drückt sich also im gesamten Kreditwesen aus. (1) Ähnlich wie das Kreditwesen basiert auch das Versicherungswesen auf Vertrauen. Ohne ihm wäre es Menschen unmöglich, ihr traditionelles Empfinden in ethnischen Identitäten zu überwinden und zu umfassenderen Zusammenschlüsse zu gelangen. 

 

Verdankt die westliche Welt ihren Wohlstand aber nicht zugleich dem Umstand, dass sie ärmere Länder, die gleichsam außerhalb ihrer "moralischen Sphäre" liegen, ausbeutet? Dass sie etwa mit Clans Geschäfte macht, die den Rohstoffreichtum ihrer Länder in mörderischer Weise plündern? Die Existenz unfairer und ausbeuterischer Verflechtungen kann nicht geleugnet werden. Wie wir beispielsweise an der Bedrohung, die die Instabilität Libyens heute für Europa darstellt, sehen, ist langfristiger Erfolg jedoch gerade nicht solchen Geschäften geschuldet, die mit diktatorischen Regimen getätigt wurden. Länder wie Norwegen zeigen demgegenüber, dass ein Umgang mit Rohstoffen, der dem Wohl der Bevölkerung und sogar dem Wohl zukünftiger Generationen dient, damit eine verantwortungsvolle Marktwirtschaft, sehr wohl möglich ist. 

 

Das Vertrauen in den Rechtsstaat hat nicht nur für die Wirtschaft fundamentale Bedeutung. Sehen wir folgenden Umstand: Heute passieren 20 bis 40 Morde pro 100 000 Einwohner und Jahr, wie sie im europäischen Mittelalter üblich waren, nur mehr in wenigen Ländern, in Europa gar nur mehr ein einziger. Der Grund dafür liegt in immer stärker werdenden Rechtssystemen, die das blutige Austragen von Konflikten unterbinden. In der Regel schützen Staaten also ihre Bürger vor Verbrechen und Gewalt.

 

Die Grundlage für gegenseitiges Vertrauen drückt sich in der uralten Goldenen Regel einfach und klar aus: Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden willst. Gesellschaften, die ihre Beziehungen nach dieser einfachen Regel gestalten, schaffen damit gegenseitiges Vertrauen. Die Motivation dafür findet sich aber im Verhältnis der Menschen zueinander. Ein solches Verhältnis ist durch gegenseitige Achtung und das Empfinden moralischer Verpflichtungen geprägt. 

 

Dies ist wichtig, um den Umgang mit Herausforderungen, die dem gesellschaftlichen Vertrauen begegnen, zu überlegen. Denn der Bereich des sozialen Kapitals bedeutet vielen Menschen Sorge um die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft. Thilo Sarrazin beschreiben das Sozialkapital wie folgt: „Der Begriff Sozialkapital bezieht sich auf die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Gesellschaft. Wiederholte angenehme Interaktion baut Vertrauen auf. Sie erhält und stärkt die Normen und Werte, die das ertragreiche Miteinander in einer Gesellschaft fördern. Menschen werden elementar beeinflusst durch die Umgangsformen in ihrer Gesellschaft, ob sie diese nun erlebten oder nur beobachteten. Das betrifft die Geschlechterrollen, die gesellschaftlichen Leitbilder, die Art der Signale im gesellschaftlichen Verkehr, die hierarchischen Verhältnisse, das Verhalten gegenüber staatlichen Institutionen, die Gewohnheiten im Geschäftsverkehr, die alltägliche Ehrlichkeit, die Achtung fremden Eigentums, den Fleiß, das abstrakte Pflichtbewusstsein, die Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden und vieles andere mehr, was im weitesten Sinn zur Prägung durch die kulturelle Tradition gehört.“ 

 

Für ein gedeihliches Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund braucht es die Bemühung um Integration und die Bereitschaft zur Bildung. Wir müssen uns um ein weit gefasstes Verantwortungsgefühl bemühen und uns zuerst als Mitglieder Österreichs und Europas identifizieren. Erst in zweiter Linie gehören wir einer Ethnie oder einer Religion an. Wir müssen ein passendes Bild unseres Staates und seiner Exekutive gewinnen. Es handelt sich nicht um eine willkürlich und eigennützig agierende Beamtenschaft im Dienste der Reichen und Mächtigen! Die umfassende Gleichberechtigung der Frau muss von den Männern akzeptiert und geachtet werden; sie wurde an anderer Stelle argumentiert. Es braucht die offene Begegnung mit allen Gesellschaftsgruppen, die hier ihre Heimat haben! Wir müssen unsere Vorurteile erkennen und überwinden, Vertrauen und Zusammenhalt finden! 

 

 

Anmerkungen

 

(1) Maßlose Gier kann dazu führen, dass die Verschuldung der Kreditinstitute völlig aus dem Ruder läuft, wie die Finanzkrise 2008 gezeigt hat. So bescherte etwa eine Kärntner Bank dem Land Österreich unwiederbringliche Verluste in astronomischer Höhe. 

 

 

Literatur: 

Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit ; Pantheon 2015

Paul Collier: Gefährliche Wahl. Wie Demokratisierung in den ärmsten Ländern der Erde gelingen kann ; Siedler 2009

Thilo Sarrazin: Wunschdenken. Europa, Währung, Bildung, Einwanderung - warum Politik so häufig scheitert ; DVA 2016