Die Rolle der Ethik im Christentum nach Darstellung von Eberhard Schockenhoff

 

Spätestens seit dem 2. Vatikanischen Konzil sieht die christliche Theologie die göttliche Offenbarung nicht primär in den Sätzen der Heiligen Schrift, sondern die Heilige Schrift bezeugt die Offenbarung Gottes im Leben und Sterben der Person des Jesus von Nazareth. Die Heilige Schrift, die Bibel, ist damit nicht selbst das Wort Gottes, sondern Jesus Christus ist die Person, durch die sich Gottes Worte offenbarten. Dieses Offenbarungsverständnis hat auch einen Paradigmenwechsel der christlichen Ethik zur Folge. 

 

Gott zeigt sich den Menschen als das, was er in seinem innersten Wesen ist, nämlich Liebe, die bis zum Äußersten für den Menschen entschlossen ist. So teilt sich Gott den Menschen mit. Bestimmte Glaubenslehren und Dogmen treten demgegenüber in den Hintergrund. Christliche Ethik versteht sich also nicht als Mittel zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Moral, als Moralressource für den Erhalt einer bedrohten Werteorientierung in der pluralistischen Gesellschaft. Sie sieht sich nicht als bloße Strategie, um etwa in der Schule Werte zu vermitteln und eine Grundlage für Moral zu geben. Denn das Christentum ist nicht zuerst eine Morallehre, sondern in seinem Mittelpunkt steht die Vorstellung des Heils, das Gott den Menschen ohne eigenes Verdienst schenkt. Die göttliche Gabe des Heils und die Erlösung bilden daher die zentrale christliche Botschaft. 

 

An zweiter Stelle steht die Antwort des Menschen. Es wäre nun ebenso falsch, die christliche Religion als eine esoterische Erlösungslehre jenseits von Ethik zu nehmen. Es gibt keinen „über-ethischen“ Weg der Gotteserfahrung und keine ethikfreie Art des Glaubens. Indem sich der Mensch von der Offenbarung Gottes als Liebe bestimmen lässt, antwortet er Gott, indem er bereit ist, solche Liebe selbst in seinem Leben zu üben. Er stellt sich für Gottes Handeln in der Welt zur Verfügung. Gott handelt nicht anders als durch Menschen, die sich ihm zur Verfügung stellen und mit ihrem Leben und mit ihrem Handeln Gottes Liebe zu den Menschen sichtbar machen. Verkörpert wird das Gebot durch Jesus Christus, der den Kreuzestod stirbt. Aus christlicher Sicht ist es ein Glaubwürdigkeitszeichen, dass Jesus die Offenbarung Gottes als Liebe nicht nur mündlich verkündet, sondern auch bereit ist, für diese Botschaft in letzter Konsequenz den Tod auf sich zu nehmen. 

 

  

Nächstenliebe

 

Nächstenliebe bildet den Kern der christlichen Ethik. Ihre Grundlegung hat das zentrale Gebot bereits im Judentum. Es findet sich im dritten Buch Mose, wo es heißt: 

 

(...) Du sollst einen Tauben nicht verfluchen und einem Blinden kein Hindernis in den Weg stellen; vielmehr sollst du deinen Gott fürchten. Ich bin der Herr. 

(...) Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr. 

(...) Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott. 

 

Historiker datieren die Schriftrollen der Tora in ihrer Endgestalt etwa auf 500 vor Christus, behaupten aber, dass die ältesten, lange Zeit mündlich überlieferten Inhalte bis 1500 vor unsere Zeitrechnung zurückreichen. Sie umfassen die Verpflichtung, Notleidende zu kleiden und zu speisen. Ein Zehntel der Ernte sollte alle drei Jahre an Bedürftige fließen. Auch findet sich mehrfach das Gebot, Feindschaft zu überwinden. Unter dem Eindruck der römischen Besatzung entbrannte etwa um 200 vor Christus die Diskussion, inwiefern Widerstand zu rechtfertigen sei und die Nächstenliebe besonders dem eigenen Volk zu gelten habe. Vor diesem Hintergrund entstand die Lehre des Jesus von Nazareth, die Überzeugungen des damaligen Judentums aufnahm und radikalisierte:  

  • Einmal positionierte sich Jesus im Streit um die Bedeutung der Nächstenliebe. Diese wird mit dem Gebot der Gottesliebe, das ebenso seinen Ursprung in der Thora hat, gleichgestellt: „Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“ 
  • Im bekannten Samaritergleichnis antwortete Jesus auf die Frage der Schriftgelehrten: Wer gehört zu den Nächsten, auf die sich das Gebot erstreckt, wem also soll ein Jude helfen? Seine Antwort verpflichtet zur bedingungslosen Zuwendung zu allen Ausgegrenzten, Notleidenden, unheilbar Kranken. Eine Haltung, die eine Entwicklung innerhalb des Judentums spiegelt. 
  • Und Jesus radikalisierte die Forderung der Thora nach Überwindung von Hass und Feindschaft: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, segnet, die euch verfluchen, tut Gutes denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen…“ 

Fraglos ist die christliche Soziallehre das Resultat einer geistigen Entwicklung im Judentum. Sie konnte allein darum Verbreitung finden, weil die notwendige Sensibilität für Ethik schon vorhanden war und die Lehre Zuspruch fand. Jesus erhob die Nächstenliebe zum Leitgedanken in Form eines Doppelgebots, das zuerst die Anerkennung Gottes und die Liebe zu Gott fordert.  Als Grundgebot der christlichen Ethik führt die Nächstenliebe zu den Einzelgeboten des Dekalogs. Sie ist das Zentrum, das durch die Gebote illustriert und konkretisiert wird: Man kann nicht den Nächsten lieben und zugleich sein Eigentum rauben, nach seinem Leben trachten, seinen guten Ruf zerstören, ihn belügen oder seine Ehe zerstören wollen. 

 

In positiver Hinsicht bekräftigen angeblich mehr als 3000 Textstellen der Bibel die aus der Nächstenliebe ergehende Verpflichtung zur Bekämpfung und Linderung von Armut. Besonders zeigen das Gleichnis vom barmherzigen Samariter und die Bergpredigt, was mit Liebe vereinbar ist, was Liebe tut. Christlich verstandene Nächstenliebe fordert demnach die Bereitschaft, unbegrenzt zu verzeihen, zu vergeben. Sie bildet die Antwort auf Verletzungen, die Menschen einander zufügen, meint dabei immer Gewaltverzicht und sogar Feindesliebe. (1)

 

Diese ist die vielleicht radikalste Forderung der christlichen Ethik. Grundlage ist zunächst, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Darüber hinaus sollen Christen voll und ganz demjenigen vergeben, der ihnen etwas antat. In der höchsten Form meint Feindesliebe jedoch, den feindlich gestimmten Menschen mit Wohlwollen, ja Zuneigung zu begegnen. Dies bedeutet freilich nicht, dass wir am Feind lieben sollen, dass er Feind ist, uns vielleicht hasst und uns schaden will. Natürlich sollte auch der Feind Hass und Bosheit überwinden und keine Feindschaft gegen uns richten. Den Feind zu lieben meint aus christlicher Sicht vielmehr, den Menschen in ihm, der wie wir von Gott geschaffen und zur Gemeinschaft mit uns berufen ist, zu lieben, damit er Feindschaft und Bosheit überwinden kann. Es geht also nicht um Bestätigung des Feindes in seiner Bosheit, sondern um die Beendigung seines Hasses, damit eine Welt universaler Versöhnung möglich wird und die Spirale von Gewalt und Gegengewalt überwunden wird.

 

 

Zum Verhältnis von säkularer Ethik zur christlichen Ethik

 

Säkulare Ethik begründet ihre Inhalte nicht mit religiösen Argumenten, doch muss sie nicht zwangsläufig als Opposition zu den Religionen verstanden sein. Im Idealfall schafft sie eine zeitgemäße ethische Grundlage, die bei religiösen Menschen jeder Konfession sowie auch bei konfessionslosen, nicht religiösen Menschen Akzeptanz finden kann. Dafür notwendig ist, die Kernaspekte einer Religion zu unterscheiden: 

 

  • Ethik: bezieht sich auf das Alltagsleben der Gläubigen
  • Metaphysik: bezieht sich auf ein Verständnis der letzten Wahrheit.
  • Kulturelle Eigenheiten: beziehen sich auf Kleidung, Sprache, Rituale usf. 

Diese Notwendigkeit gilt beispielsweise für einen Schulunterricht, dem es um die Vermittlung gemeinsamer Werte für Schüler unterschiedlicher Weltanschauung geht. Keinesfalls darf es säkularer Ethik darum gehen, Ablehnung, Ausgrenzung und Feindseligkeit gegenüber Gläubigen, egal welcher Konfession, zu schüren. Im Gegenteil soll sie Verbindendes bewirken, wenn sie das gemeinsame Menschsein in den Vordergrund stellt, ohne dabei religiös empfindende Menschen vor den Kopf zu stoßen. Solch Verbindendes findet sie in den Motivationsgründen, gleich ob sie nun Nächstenliebe, Barmherzigkeit oder Mitgefühl heißen. Denn solche Beweggründe sind es, die der kalten Rationalität und Gleichgültigkeit sowie den destruktiven Emotionen entgegenwirken können und einen guten Willen schaffen.  

 

 

Das Gute aus philosophischer Sicht

 

Bevor wir über das Gute sprechen, ist es wichtig, zu erklären, weshalb der konträre Begriff, das Böse, abzulehnen ist. Dies hat folgende Gründe: 

  • Gefahr der Manipulation: Politische oder religiöse Führungspersönlichkeiten können mittels Schwarzweißmalerei Menschen aufwiegeln, sodass es zur Dämonisierung einer Person oder Gruppe und schlussendlich zu deren Entmenschlichung kommt. 
  • Sehen wir die Natur eines Menschen als dauerhaft und unabänderlich böse an, so scheint dessen Beseitigung die einzige Lösung. Doch gibt es Gründe und Bedingungen, die dazu führen, dass sich ein Mensch destruktiv verhält. Daher kann destruktives Verhalten vorübergehender Natur sein. Das eröffnet die Möglichkeit für Veränderungen. 
  • Das Etikett hindert uns daran, die wirklichen Wurzeln und Ursachen eines Verhaltens ausfindig zu machen. Das kann dazu führen, dass man das eigentliche Problem absichtlich anzugehen vermeidet. 
  • Manche Ethiker vermeiden zudem auch den Begriff des Guten. Stattdessen präferieren sie den Code richtig/falsch. Oft wird dies mit dem Anspruch verknüpft, im Sinne von Wissenschaft die Thematiken der Moral wertfrei und objektiv zu untersuchen. Doch ist dieser Anspruch problematisch. 

 

Ein Vergleich mit Kunst vermag das Problem, das sich für eine vollkommen wertfreie Haltung ergibt, zu veranschaulichen: Möchten wir etwa über ein Gemälde sprechen, so können wir das Dargestellte genau beschreiben. Allerdings braucht es in irgendeiner Form immer ein Urteil über schön, gelungen, innovativ, kreativ etc. damit unsere Rede auch etwas mit Kunst zu tun hat. Das Urteil, ob etwas schön sei, lässt sich nicht völlig objektiv und wissenschaftlich treffen. Ähnlich verhält es sich mit Ethik. Eine bloße Schilderung der Wirklichkeit lässt ebensowenig ein moralisches Urteil zu. Denn aus dem puren physikalischen Sein lässt sich schwerlich ein moralisches Sollen ableiten. Die Erkenntnis geht auf einen bedeutenden Philosophen der Aufklärung, David Hume, zurück. 

 

Der Humanismus, wonach alle Menschen die gleichen Rechte und die gleiche Würde besitzen sollten, lässt sich also nicht aus dem beobachtbaren Universum schließen, sondern es handelt sich um eine grundlegende Überzeugung. Indem die gegenseitige Abhängigkeit, etwa in ökonomischer, ökologischer und pazifistischer Hinsicht, auf unserem Planeten stetig zunimmt, lässt sich die humanistische Überzeugung zwar gut gegenüber dem harten Sozialdarwinismus argumentieren, dennoch ist sie kein Naturgesetz, sondern ein moralisches Prinzip. Erst wenn wir ein solches Prinzip für uns klären, wird es möglich, konkrete Situationen moralisch zu beurteilen. Das gemeinsame Menschsein und gemeinsame Streben nach Glück bedarf also zuerst der Anerkennung. Erst so wird es für Ethik möglich, die Wirklichkeit in einer eigenständigen Weise anzusprechen und mit Anregungen zu versehen. 

 

Tatsächlich meint der Anspruch mancher Ethiker, Ethik sei eine Wissenschaft, die wertfrei und objektiv untersuchen würde, nicht das Untersuchen von gesellschaftlicher Moral. Damit gemeint ist vielmehr die Diskussion unterschiedlicher Moralphilosophien, wie etwa diejenige Immanuel Kants. Doch auch wenn Ethik keine absolut strenge Wissenschaft sein kann, sollte sie dennoch mehr als bloße Ideologie sein, die Objektivität nur vortäuscht, insgeheim aber danach trachtet, die eigene Grundannahme bestätigt zu finden, und solche Erkenntnisse sabotiert, die dem widersprechen. Das wissenschaftliche Leitbild für Ethik meint demnach, vernünftig und rational zu argumentieren und bloße Meinungen von wissenschaftlichen Tatsachen streng zu unterscheiden. 

 

Kommen wir zurück zur physikalischen Sichtweise. Sie kann nicht zeigen, ob etwas gut oder zumindest richtig oder falsch sei. Eine solche streng materielle Sichtweise ist jedoch sehr eng. Für sie gibt es das Allermeiste nicht, was unsere Wirklichkeit ausmacht. Wenn wir beispielsweise einen Raum mit dem Sinn ausstatten, Klassenzimmer zu sein, so wirkt sich dies in pädagogischer Hinsicht äußerst vorteilhaft aus. Klassenzimmer ist jedoch kein Faktum der physikalischen Wirklichkeit, sondern eine geistige Übereinkunft, die wir teilen. Genauso verhält es sich, wenn wir einen geographischen Raum mit dem Sinn ausstatten, Nation zu sein. Als Nation hilft das Konstrukt den dort ansässigen Menschen, als große Gemeinschaft zu handeln. Indem die Bürger nicht nur zum Vorteil der eigenen, kleinen Sippe handeln, verschaffen sie sich umfassende Vorteile. Durch solchen Sinn entsteht also eine gemeinsame geistige Wirklichkeit, die über die materielle Wirklichkeit hinausreicht. Mehr noch als unser subjektives Denken ist dies Teil menschlicher Wirklichkeit.

 

Wenn wir also sagen, dass das physikalische Sein kein Gutes zeigt, so bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass es kein Gutes, nämlich als geistige Wirklichkeit, gäbe. Denn die Werte und Überzeugungen, die als gemeinsame Wirklichkeit hervortreten, sind keine beliebigen Konstrukte. Beispielsweise findet sich in den philosophischen Schriften beinahe aller frühen Hochkulturen, etwa in Persien, Ägypten, China oder Indien, ein Sinn, der jenem der Goldenen Regel entspricht: Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden willst. Dieses philosophische, vernünftige Denken entstand etwa zeitgleich auf verschiedenen Kontinenten. Es zeigt die Forderung der Vernunft, dem anderen kein Unrecht zuzufügen, sondern Verhalten auszuüben, das man auch schätzt, wenn es einem selbst betrifft. Es fordert, Verantwortung gegenüber allen anderen Menschen zu übernehmen. Auch die Forderung der Menschenrechte beruht auf solchem Sinn und auf dem Willen, dem menschlichen Zusammenleben eine sinnvolle Zukunft zu geben. Sie bedeutet den Willen, einem Guten zuzustreben, das für sich ein Zweck ist, nämlich einem gemeinsamen, künftigen Glück.

 

Gleichermaßen sinnvoll erhoben die großen Glaubenstraditionen den Motivationsgrund für moralisches Handeln, nämlich Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Mitgefühl, ins Zentrum ihrer Ethik. Hier zeigt sich folgende überragende Bedeutung: Für die komplexen moralischen Fragen der konkreten Wirklichkeit, wo oft Vor- und Nachteile von Mehrheiten solchen von Minderheiten unversöhnlich gegenüberstehen, wo unterschiedlichste Interessen in Konflikt geraten können, immer neue, kaum überblickbare Problemfelder entstehen, gibt es kein wissenschaftliches Testverfahren, das die richtigen Antworten, wie jeweils zu handeln sei, auswerfen würde. Denn zumeist sind es viele Faktoren, die sich wechselseitig bedingen und eine Entscheidungssituation beeinflussen. Wenn es jedoch gelingt, mitfühlend von einer Metaebene aus zu urteilen, erhöht dies die Chance, eine gute Lösung zu finden.

 

 

Können wir Herzenswärme fördern?

 

Wie gezeigt wurde, ist das Empfinden von Anteilnahme und fürsorgliches Handeln durch unsere menschliche Disposition begründet. Um solche Eigenschaften zu fördern bedarf es Einsicht in den Wert von liebevoller Güte und Hilfsbereitschaft. Wir sollten versuchen, diesen Wert gründlich zu verstehen und eine solche Haltung mit unserem Selbstbild verbinden. Ebenso braucht es die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen, besonders mit bestimmten destruktiven Gefühlen wie Neid, Zorn und Hass.

 

Der Weg ist also zweigleisig. Wir sollten unsere positiven und konstruktiven Geisteszustände wertschätzen und versuchen, sie zu kultivieren. Ebenso geht es darum, die Neigung zu destruktiven Gedanken und Gefühlen zu bekämpfen. Dafür braucht es ein Nachdenken über Gefühle und Eigenschaften. Dies sollte zu Überzeugung und Entschlossenheit führen, uns auf das Wohl anderer Menschen auszurichten, einen guten Willen zu kultivieren. Es ist daher entscheidend, den Wert von liebevoller Güte und Hilfsbereitschaft zunächst gründlich zu durchschauen und eine überlegte Einstellung zum eigenen Glück zu entwickeln. Dies führt zu Überzeugung und Entschlossenheit.

 

Geht es darum, ganz allgemein die Neigung zu destruktiven Gedanken und Gefühlen zu bekämpfen, ebenso positive Stimmungen wie etwa Geduld und Hilfsbereitschaft zu verstärken und einen ruhigen, beherrschten Geist zu entwickeln, kann dies aber nicht allein durch vernünftiges Denken gelingen. Gefühle sind psychologisch konstruierte Erlebnisse, sie entstehen durch das Zusammenwirken von Kognition und Empfindung. Nachdenken kann aber nur bedingt auf Empfindungen zugreifen und Einfluss nehmen.

 

Soziales Empfinden ist in uns angelegt. Es lässt die Interaktion des Neugeborenen mit seiner Mutter entstehen, deren Gelingen so wichtig für unser weiteres Leben ist. Diese Ermöglichung ist also nicht allein an kognitive Leistungen geknüpft, sondern betrifft ebenso andere Areale unseres Gehirns als diejenigen, die für das rationale Denken zuständig sind. Auch evolutionär betrachtet finden basale Empfindungen ihren Ursprung in älteren Teilen des Gehirns als jene, die für das rationale und sprachliche Denken zuständig sind. Natürlich beeinflusst dieses basale Empfinden unser komplexes emotional-kognitives Erleben maßgeblich. Es steht in engem Kontakt mit angeborenem Wahrnehmen, Erleben, Reagieren und Verhalten.

 

Für unsere Frage nach der Möglichkeit, mitfühlende Empfindungen zu schulen, gilt einmal, jene Fähigkeiten durch bloßes Denken zu stärken, sich also bewusst auf das Wohl der Mitmenschen auszurichten und die Bedeutung von Nächstenliebe und Mitgefühl gedanklich zu erfassen. Darüber hinaus sollten wir jedoch versuchen, das Empfinden von liebevoller Verbundenheit, Nächstenliebe, Mitgefühl und Barmherzigkeit in uns auszudehnen, bewusst in uns zu aktivieren und zu trainieren!

 

 

Schulung des Herzens

 

Frühkindliche Bindung entwickelt sich in Zusammenhang mit einer angeborenen Ausrichtung auf andere Menschen, die uns die Natur mitgibt. Eine gelungene emotionale Bindung gibt im späteren Leben innere Sicherheit und hilft, intime Beziehungen mit tiefer Befriedigung zu erleben. Es lässt sich annehmen, dass diese soziale Kompetenz auch Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme und Herzenswärme begünstigt, die mit einem mitfühlenden Geist und mit dem Abstehen von Egoismus und Egozentrik zu tun haben. Hier soll es um die Frage gehen, ob solche Eigenschaften trainiert werden können.

 

Zweifellos besitzen Menschen in ihrem späteren Leben die Fähigkeit zu mütterlicher und väterlicher Liebe und empfinden generell gegenüber Kleinkindern viel Mitgefühl, Mitfreude und Hilfsbereitschaft. Natürlich fühlt eine Mutter Glück, wenn sie ihr Baby liebkost! Eine tiefere Erklärung dafür könnte lauten, dass wir uns zu Beginn unseres Lebens kaum noch von der eigenen Mutter getrennt erleben. Es könnte daher sein, dass wir mithilfe eines mitfühlenden Geistes eine frühe Erfahrung von jenem überlebenswichtigen Zusammenspiel unserer emotionalen Bedürfnisse mit liebevoller Fürsorge reaktivieren und uns solcherart durch selbstlose Liebe gleichermaßen selbst Glück schenken. Dieser Gedanke bringt auch der Dalai Lama zum Ausdruck: „Das Wunderschöne am Mitgefühl ist, dass sich bei seinem spontanen Aufsteigen im Menschen eine innere Tür zu dieser Liebeserfahrung des Kindes öffnet, die Teil unserer grundlegenden Wirklichkeit ist. (…) Wenn wir also füreinander Mitgefühl empfinden, kehren wir zu unserer tiefsten Natur zurück.“

 

Hieraus ergibt sich ein Schlüssel zur Förderung sozialer Kompetenz. Denn wir besitzen aufgrund unserer Fähigkeit zu mütterlicher und väterlicher Liebe zweifellos die Möglichkeit, eine liebevolle und mitfühlende Stimmung in uns entstehen zu lassen. Um die natürliche Empfindung eines herzlichen, tiefen und selbstlosen Gernhabens in sich zu erzeugen, bietet sich freilich jeder Mensch, der uns etwas bedeutet, an. Doch sind die Empfindungen gegenüber dem eigenen Kind, der eigenen Mutter oder dem eigenen Vater, sofern die Beziehung einigermaßen unbelastet ist, aufgrund ihrer tiefen Verwurzelung besonders geeignet, einen liebevollen Geisteszustand zu erzeugen und sodann auszudehnen.

 

Das Gefühl tiefer Zuneigung bildet die Starthilfe, das Ziel der Übung besteht jedoch in einer allgemeinen Stimmung, die unseren Mitmenschen gilt. Es braucht die ehrliche Entschlossenheit, zum Wohl aller Mitmenschen auch zu handeln! Wesentlich geht es dabei um den vollkommen selbstlosen Wunsch, dass der andere Mensch glücklich sei. So entsteht ein Gefühl der Verbundenheit. Denn wir erfahren, dass dieser andere Mensch Glück und Freude genauso erlebt, wie wir dies von uns selbst kennen. Wenn wir dieses Ziel einer aufrichtigen Absicht zumindest teilweise erreichen, dann sollten wir darin eine positive geistige Qualität erkennen. Damit entsteht die erstaunliche Wirkung, dass unsere uneigennützige Motivation unser eigenes geistiges Wohlbefinden stärkt!

 

Was braucht es, um zunächst jenes Gernhaben, jene Mitfreude und sodann die allgemeine Hilfsbereitschaft und menschliche Verbundenheit in sich zu aktivieren und zu intensivieren, auszudehnen? Der entscheidende Faktor wurde schon genannt: Wir sollten uns über den Wert von Mitfreude und Mitgefühl immer neu bewusst werden. Da sich im Alltag so viele Gedanken ausschließlich um uns selbst drehen, ist der selbstlose Aspekt der Übung nicht leicht zu verwirklichen.

 

Die Übung ist der buddhistischen Geistesschulung entlehnt. Dort heißt es in der entscheidenden Lehrrede des Mahayana zum Mitgefühl: „Wie eine Mutter ihr Leben aufs Spiel setzen würde, um ihr Kind, ihr einziges Kind zu schützen, so sollte man auch ein grenzenloses Herz bezüglich aller Wesen pflegen.“ Wenn es gelingt, dieses grenzenlose Herz für Augenblicke zu verwirklichen, so hat dies sogar therapeutische Wirkung. Der Dalai Lama schreibt: „Sobald sich die innere Tür auftut, wird es mühelos möglich, auf andere zuzugehen und mit ihnen in Kontakt zu kommen. Aus diesem Grund ist das größte Gegengift gegen Unsicherheit und das Empfinden der Angst das Mitgefühl, weil es den Menschen wieder auf den Grundstock seiner eigenen inneren Stärke zurückbringt. Ein wirklich mitfühlender Mensch verkörpert einen sorgenfreien Geist der Angstfreiheit, der sich der Freiheit von egoistischen Sorgen um sich selbst verdankt.“ (2)

 

Der Zusammenhang von liebevoller Mitfreude und andererseits Mitgefühl mit dem Leid mag verwundern. Doch steht der Wunsch, dass die anderen ihr Glück genießen, in natürlicher Verbindung mit dem Wunsch, dass die anderen Menschen von Leid befreit werden. Daher bilden liebevolle Mitfreude und Mitgefühl lediglich die beiden Seiten einer Münze und entstehen in uns gewissermaßen gemeinsam. Schließlich sollte das Gefühl der Verbundenheit und Zuneigung für unsere Nächsten dazu führen, sich mit allen Menschen stärker im Einklang zu fühlen und zu helfen, wenn andere Menschen leiden. Es sollte uns darin bestärken, mitfühlender, geduldiger, disziplinierter und großzügiger zum Wohl anderer zu handeln.

 

Um die geistige Übung in der Praxis umzusetzen, zu praktizieren, sollten wir eine aufrechte, aber entspannte Sitzhaltung wählen. Insofern die Methode erfolgreich sein kann, ist sicherlich die Regelmäßigkeit des Trainings entscheidend, nicht die übermäßige Anstrengung. Wir sollten uns bemühen, ein Setting zu schaffen, das der Situation besondere Bedeutung verleiht und hilft, uns an das regelmäßige Üben zu gewöhnen. Hinsichtlich der Atmung ist nicht erforderlich, irgendetwas willentlich zu tun. Einzig kann die spontane und reflexartige Vertiefung der Atmung als Signal dienen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Doch sicher ist das Mildern der eigenen Egozentrik keine Methode der simplen Entspannung. Für dieses Unterfangen braucht es immer ein Stück Überwindung - nicht anders, als dies beim Sport der Fall ist!

 

Wenn wir uns dafür entscheiden, Mitfreude, liebevolle Güte und Verbundenheit zu üben, dann ist übrigens keine bitterernste Miene erforderlich. Denn wenn wir diesen geistigen Zustand erfolgreich aktivieren und intensivieren, dann ist es doch nur natürlich, wenn ein spontanes Lächeln auftaucht. So finden unsere Gedanken in unserer Mimik den passenden Ausdruck. Denn Lächeln hat doch eindeutig seinen Platz im zwischenmenschlichen, liebenden Bereich! Vielleicht wird es sogar bald zur Gewohnheit und begleitet unser Üben. Ein Üben, für das es grundsätzlich einen klaren, aufmerksamen und ruhigen Geist braucht, der schlussendlich zu einer altruistischen Haltung finden soll.

 

Natürlich ist die Übung kein rasch wirksames Heilmittel für alle Probleme, die uns vielleicht belasten. Doch Zeit und andauerndes Bemühen vorausgesetzt, können wir sicher lernen, unseren Geist mitfühlend auszurichten. Dies wird sich auf unsere automatischen, emotionalen Reaktionen im Alltag hoffentlich positiv auswirken und helfen, negative Gedanken und Gefühle besser in Schach  halten zu können und innere Ruhe zu bewahren. Statt auf Kritik ärgerlich und defensiv zu reagieren, hilft innere Zufriedenheit dabei, zuhören zu können. Auch ist das Erleben von liebevoller Güte und Zuneigung das beste und wirksamste Mittel gegen Gefühle der Isolation.

 

Zweifellos können wir in einem gewissen Ausmaß lernen, willentlich Stimmungen in uns zu erzeugen, die uns sodann ein wenig begleiten. Dieser Weg über die Emotion zum Gefühl und zur ausgedehnten Stimmung bedarf wohl keines Beweises. Darüber hinaus ist, regelmäßiges Üben vorausgesetzt, auch ein positiver Einfluss auf unsere persönlichen Eigenschaften, die uns ja über den längsten Zeitraum begleiten, möglich. Schon Aristoteles, der Begründer der philosophischen Ethik, unterschied zwischen Tugenden des Verstandes, die der Belehrung bedürfen, und Tugenden des Charakters, für die es nach Aristoteles Gewöhnung braucht. Uns geht es um die Gewöhnung an ein herzliches und mitfühlendes Empfinden. Mittels regelmäßiger Übung können wir lernen, es unseren Mitmenschen verstärkt zukommen zu lassen.

 

Viele Wissenschaftler sind sogar der Überzeugung, dass wir durch bewusstes Training die Beschaffenheit unseres Gehirns physisch verändern können. Sie sprechen von der Formung und Plastizität des Gehirns infolge neuer Gedanken und Erfahrungen. Als Beispiel gelten Pianisten, deren für die Motorik der Finger zuständige Gehirnregion erheblich größer sein kann. Dies könnte darauf zurückgehen, dass jene Gehirnregionen von Kind an trainiert wurden. Dabei ist die Entwicklung des Gehirns mit dem Erwachsenwerden nicht abgeschlossen. Inzwischen ist nachgewiesen, dass in jedem Alter neue Gehirnzellen gebildet werden, wenn wir eine Handlung wiederholt ausführen. (3)

 

Um den Geist auf eine mitfühlende Haltung einzustimmen, braucht es das Zusammenspiel zwischen jenen Gehirnregionen, die für höhere kognitive Vorgänge und das rationale Denken zuständig sind, und denjenigen Arealen, die instinktive und emotionale Reaktionen beisteuern. Erst dieses Zusammenspiel ermöglicht uns, Gefühle zu erleben. Um eine bleibende Wirkung auf unser Empfinden zu bewirken, bedarf es daher der Auseinandersetzung mit dem Wert von liebevoller Güte und Mitgefühl. Darüber hinaus sollten wir aber auch ein solches Erleben praktisch üben, die Gefühle tatsächlich erleben und trainieren.

 

Wir können berechtigt hoffen, dass eine solche Schulung von positiven geistigen Qualitäten möglich ist, da so viele religiöse Lehren seit Jahrtausenden von ihren Mitgliedern fordern, sich in vergleichbarer Weise zu üben, sich beispielsweise in Herzenswärme zu schulen. Die Übung unterscheidet sich insofern von religiöser Praxis, als Grundlage ist, etwas aus eigener Kraft erreichen zu wollen. Dennoch ist auch in säkularer Hinsicht eine gewisse Demut, zumindest gegenüber dem eigenen Geist, sicher angebracht.

 

 

Gibt es ein ewiges Leben?

 

Ist der Beitrag, den eine säkulare Ethik für ein gelungenes und glückliches Leben leisten kann, unvollständig, da sie keine höchste Wahrheit oder Metaphysik erklären kann? Wenn wir etwa der Überzeugung sind, nur eine physische Existenz zu besitzen und absolut vergänglich, sterblich zu sein, können wir uns dann das grundsätzliche Anrecht auf Glück überhaupt zusprechen? Sofern wir ein „Sein zum Tode“ als fundamentalen Widerspruch zu unserem Glück erfahren, gelangen wir in einen Bereich, wo eine säkulare Ethik kaum Antwort geben kann. Philosophie kann nur darauf hinweisen, dass wir die Welt, wie sie ist, nicht durchgängig erkennen, verstehen können. Denn jedes wissenschaftliche Erkennen vermag nur den raumzeitlichen, rationalen und kausalen Kategorien unseres Geistes zu folgen, andere Werkzeuge besitzen wir nicht.

 

Doch gibt es auch philosophische Gründe, von einem unsterblichen Anteil unseres Geistes überzeugt zu sein. Der Schlüssel für eine philosophische Überzeugung liegt darin, das Wesen der Gedanken zu untersuchen. Gedanken unterscheiden sich von Gehirnvorgängen. Das, was wir subjektiv als unsere Gedanken erleben, ist vollkommen anders als das, was eine biologische Wissenschaft feststellen kann. Wenn sie, drastisch formuliert, die Schädeldecke eines Menschen öffnet, dann findet sie dort keine Gedanken, sondern nur biologische Vorgänge. Möglicherweise sind Gedanken das Produkt dieser physischen Zustände, doch sind sie offenkundig nicht ident mit diesen. Was also sind Gedanken, ohne deren Leistungen unsere Kultur und Wissenschaft, unser Menschsein nicht möglich wäre?  Natürlich kann Gedachtes beispielsweise psychologisch erforscht und nach logischen Gesichtspunkten beurteilt werden. Was Gedanken jedoch ihrem Wesen nach sind, kann nicht zum Gegenstand empirischer Wissenschaft werden. Denn Gedanken können, wie gesagt, nicht beobachtet werden.

 

Gedanken können nicht beobachtet werden, da sie keine räumliche Ausdehnung besitzen. Sehr wohl besitzen sie jedoch eine zeitliche Ausdehnung, sie dauern. Was aber ist nun Zeit? Auch die naturwissenschaftlich gefasste Zeit unterscheidet sich wesentlich von dem, was wir eigentlich als Zeit erleben und verstehen. Naturwissenschaft erlebt keine Dauer von Zeit. Physikalisch ist nur im Vergleich möglich zu bestimmen, ob sich Uhrzeiger langsamer oder schneller bewegen. Ja, nach Einstein können wir nicht einmal behaupten, dass es so etwas wie eine selbstständige Zeit überhaupt gäbe, die sich von der Welt unterscheiden und ihr den Maßstab geben würde. Sondern die Prozesse verhalten sich relativ, gesetzlich und mechanisch. Davon getrennt gibt es keine absolute Zeit. Es gibt einen noch wesentlicheren Unterschied zwischen unserem Erleben von Zeit und jener naturwissenschaftlich gefassten Zeit. Naturwissenschaft kennt prinzipiell keine Gegenwart, kein Jetzt. Damit abstrahiert sie jedoch das Wesentlichste, das wir hinsichtlich von Zeit erleben. Zeit findet immer nur im Jetzt statt! Um sinnvoll von Zeit zu sprechen, bedarf es daher etwas, das sich als Subjektivität bezeichnen lässt. Diese Innerlichkeit gibt in einem besonderen Maße Zeit, das gegenwärtige, einzig wirkliche Jetzt und seine konkrete Dauer.

 

Zeit und Denken, so entscheidend sie auch die Wirklichkeit prägen, sind sie dennoch durch eine nur subjektiv erfahrbare Qualität gekennzeichnet. Es braucht unser Zutun und daher Hinzudenken der eigenen Aktivität, um das, was wirklich ist, nicht naturwissenschaftlich zu reduzieren, sondern als Ganzes zu nehmen und zu verstehen. So lässt sich sinnvoll spekulieren, dass es für diese Möglichkeit des Gebens eine (vielleicht lichthafte) Form der Unsterblichkeit braucht, welche dem Bewusstsein innewohnt.

 

Natürlich kann philosophische Spekulation keinen Beweis für ein ewiges Leben liefern. Doch kann sie die Überzeugung von absoluter Endlichkeit und Sterblichkeit kritisch hinterfragen. Sie kann dabei unterstützen, einen Glauben zu entwickeln, um sich in der Welt geborgen zu fühlen. Denn für viele Menschen scheint es nicht vorteilhaft, nach Gründen für die Überzeugung zu suchen, dass wir absolut sterblich wären. Die Gefahr liegt auf der Hand, dass eine solche Grundüberzeugung unsere Neigung zu Frustration, Trauer und Gier verstärken würde. Es zeigt sich demnach zumindest für manche Menschen eine Verbindung zwischen der Bereitschaft, auf das eigene geistige Wohlbefinden zu achten, und der Bereitschaft, gewisse grundsätzliche Überzeugungen anzunehmen.

 

Einen Glauben zu entwickeln und zu stärken, um leidvollen Geisteszuständen sanft entgegenzutreten, ist noch in einer weiteren Hinsicht wertvoll. Um sich in der Welt halbwegs geborgen zu fühlen, ist es hilfreich, an ein Gutes zu glauben. Wenn wir ehrlichen Herzens eine gute Tat tun, geschieht ein solcher Glaube schließlich automatisch in uns. Wenn wir dies berücksichtigen, gibt es Sinn für die Hoffnung, dass unser Bemühen um ein mitfühlendes und liebendes, verbundenes Empfinden auf die Qualität einer möglichen nicht leiblichen und nicht zeitlichen Seele Einfluss hat.

 

 

Anmerkungen

 

(1) Auch das Bild der Mutterliebe, verkörpert durch Maria, Mutter Gottes, gehört zur christlichen Spiritualität. 

 

(2) Übrigens erzählt der Dalai Lama von einem Jahrzehnte alten Vorkommnis, als Wissenschaftler die Meditation buddhistischer Mönche untersuchen wollten. Zu diesem Zweck demonstrierten sie eine Art Kappe mit vielen Drähten, um die elektrischen Aktivitäten im Gehirn der meditierenden Mönche zu messen. Dies sorgte bei den anwesenden Mönchen für Heiterkeit. Denn den mit westlicher Wissenschaft kaum vertrauten Mönchen erschien es seltsam, dass lediglich das Gehirn, nicht aber das Herz Gegenstand der Untersuchung sein sollte. Wenn hier also von einer „Schulung des Herzens“ gesprochen wird, dann in jenem Sinn, den auch die deutsche Sprache nahe legt: Wir versuchen, unser Herz zu öffnen. 

 

(3) Die Inselbegabungen mancher Autisten, etwa verblüffende Leistungen des Gedächtnisses, werden als Folge einer lebenslangen Beschäftigung und Konzentration auf enge Spezialgebiete interpretiert. Vermutet wird, dass diese Leistungen aufgrund realer Veränderungen der neuronalen Netze des Gehirns ermöglicht werden. Dies lässt sich als Hinweis auf die Formbarkeit unseres Gehirns deuten.

 

 

 

Literatur: 

Dalai Lama: Das Herz der Religionen ; Herder 2010

Eberhard Schockenhoff: Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf ; Herder 2007

youTube: Ethik der Religionen. Christliche und islamische Grundlagen