Zur philosophischen Ethik gibt es zahlreiche Publikationen. Der folgende kurze Überblick verdankt manche Anregung Konrad Paul Liessmann: Vom Nutzen und Nachteil des Denkens für das Leben. 

 

Wichtig ist vorab festzustellen, dass die philosophische Methode, Fragen mit Vernunft und ohne Berufung auf bloße Tradition oder auf religiösen Glauben zu behandeln, etwa zeitgleich und ohne gegenseitige Kenntnis in China, Indien und im Abendland entstand. Karl Jaspers bezeichnet den Zeitraum um 500 vor Christus als Achsenzeit. Griechenland sah seine ersten großen Philosophen wie Parmenides, Heraklit und Platon, in China lebten Konfuzius und Laotse, in Indien entstanden die Upanischaden und lebte Buddha und im Iran lehrte Zarathustra. 

 

Sehen wir das Prinzip der Goldenen Regel, das überall in der frühesten philosophischen Ethik zum Ausdruck kam: 

 

  • Mahabharata: Das ist die Summe der Pflicht: Tu anderen nichts, wovon du nicht willst, dass sie es dir tun. 
  • Judentum, Talmud: Was du verabscheust, das tu auch deinem Nächsten nicht an. Das ist das ganze Gesetz. Alles Übrige ist Kommentar dazu. 
  • Zoroastrismus: Einzig die Natur ist gut, die sich enthält, einem anderen anzutun, was auch immer nicht für sie selbst gut ist. 
  • Buddhismus: Da auch andere sich um sich selbst sorgen, sollten die, welche für sich selbst sorgen, andere nicht verletzen. 
  • Jainismus: Der Mensch sollte so wandeln, dass er alle Geschöpfe so behandelt, wie er selbst behandelt werden möchte. 
  • Daoismus: Betrachte den Gewinn deines Nächsten als deinen Gewinn und den Verlust deines Nächsten als deinen Verlust. 
  • Konfuzianismus: Tu nicht anderen an, was du nicht selbst ertragen möchtest. Dann gibt es gegen dich keinen Groll, weder in der Familie noch im Staat. 

 

 

Platon (427-347 v. Chr.)

 

Die Frage nach dem guten Leben entzündet sich in Krisenzeiten. In jener Zeit des Platon und Aristoteles war die Supermacht Athen mit schweren inneren Problemen konfrontiert: Sittenverfall, Korruption, Oligarchie, Seilschaften, Unehrlichkeit, Privilegien, Aushebelung der Demokratie durch die Wirtschaftselite. Auch hatte der lange Krieg mit dem Rivalen Sparta begonnen, der den endgültigen Niedergang Athens bringen würde. So war die Ethik des Platon und seines Schülers Aristoteles darauf gerichtet, neu Orientierung zu geben. In der philosophischen Eliteschule, die Platon gründete, galt es besonders, das Gute zu erkennen und zu leben. 

 

In seinen literarischen Dialogen behandelt Platon Tugenden wie Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit - die Kardinaltugenden. Gerechtigkeit fasste er als ein harmonisches Zusammenspiel der Seelenteile. Diese Teile der menschlichen Seele - Vernunft, Begierde und Wille (das Mut-artige) - sah Platon zudem in funktionaler Entsprechung mit den Ständen eines wohlgeordneten Staates: Herrschaft, Wirtschaft und Militär. Dabei ging es Platon mehr um Bildung als um Gleichberechtigung. Besonders kamen Frauen und Sklaven keinerlei Rechte zu. 

 

Die Bedeutung der Ethik Platons besteht in der Verbindung mit seiner Erkenntnistheorie und Metaphysik, d. h. seiner Ideenlehre: Wir bedürfen immer Ideen, um die Wirklichkeit zu begreifen, dieser platonische Gedanke findet sich erstmals im abendländischen Denken. Beispielsweise können wir einen Tisch trotz der Vielzahl möglicher Tischformen als Tisch erkennen. Platon nahm diese Ideen als das eigentlich Wirkliche. Sie verleihen den Dingen Kontur und damit Existenz! (1) Bekanntlich erklärte Platon das Gute zur höchsten Idee, der alles Streben unterworfen ist, und sprach davon in Gleichnissen: im Höhlen-, Linien- und Sonnengleichnis. 

 

 

Aristoteles (384-322 v. Chr.)

 

Kann das Denken und Philosophieren etwas über ein sinnhaftes und geglücktes Leben herausfinden? Aristoteles, Schüler Platons, nannte als zentrales Thema von Ethik das menschliche Glück. Er verstand unter Glückseligkeit nicht irgendwelche Höhepunkte im Leben, sondern ein solches Glück, das ein ganzes Menschenleben dauern soll, und fasste den bekannten Vergleich: „Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und auch nicht ein Tag. So macht auch nicht ein Tag oder eine kleine Zeitspanne den Menschen glücklich und selig.“

 

Das Denken des Aristoteles über Glückseligkeit gab das erste Fundament einer Ethik. Es war vom Optimismus getragen, dass die Frage nach dem guten, dem richtigen, dem geglückten Leben mit den Möglichkeiten des vernünftigen Nachdenkens beantwortet werden kann. Aristoteles argumentierte, dass wir alle unsere Ziele letztlich um der Glückseligkeit willen anstreben. Beispielsweise lernen wir, um gute Berufschancen zu haben. Diese wollen wir nützen, um Geld zu verdienen. Dies wollen wir vielleicht verwenden, um reisen zu können, dieses wiederum streben wir an, um uns frei zu fühlen. Eine solche Hierarchie der Zwecke lässt nach dem obersten Zweck fragen. Was begehren wir um seiner selbst willen? Aristoteles: „Unter dem Begriff „für sich allein genügend“ verstehen wir das, was rein für sich genommen das Leben begehrenswert macht und nirgends einen Mangel offenlässt. Wir glauben, dass das Glück dieser Begriffsbestimmung entspricht und ferner, dass es erstrebenswerter ist als alle anderen Güter zusammen, also nicht auf einer Linie mit den anderen gereiht ist. (…) So erweist sich denn das Glück als etwas Vollendetes, für sich allein Genügendes: es ist das Endziel des uns möglichen Handelns.“ 

 

Glück ist also das höchste Gut, um das es im Leben geht, das keinen weiteren Zweck mehr dient. Doch versteht der griechische Philosoph darunter keinen Hedonismus und auch kein egoistisches Kalkül. Aristoteles schreibt: „Das oberste Gut genügt für sich allein. Den Begriff „für sich allein genügend“ wenden wir aber nicht an auf das von allen Bindungen gelöste Ich, auf das Ich-beschränkte Leben, sondern auf das Leben in Verflochtenheit mit Eltern, Kindern, der Frau, überhaupt den Freunden und Mitbürgern; denn der Mensch ist von Natur bestimmt für die Gemeinschaft.“ Das was wir als Glück empfinden, wofür wir uns mühen und einsetzen, ist in höchstem Maße mit der Gemeinschaft verbunden, in der wir leben. Allerdings denkt Aristoteles an eine gerade noch überschaubare Gemeinschaft: „Für diese Verflochtenheit muss aber eine bestimmte Grenze gezogen werden. Denn wenn man sie ausdehnt auf Vorfahren und Nachfahren und auf die Freunde der Freunde, so kommt man ins Endlose.“ Nach dieser Ansicht kann ein Gemeinschaftsleben nur dann wirklich gelingen, wenn die Gemeinschaft gerade noch überschaubar ist. 

 

Das Prinzip des Aristoteles ist das rechte Maß. Neben den Tugenden des Verstandes ordnete er solche des Charakters als maßgeblich für ein gelungenes, glückliches Leben. Zu nennen sind Tapferkeit, Besonnenheit, Freigiebigkeit und Großherzigkeit im Umgang mit Geld, Ehrbewusstsein und Seelengröße, Sanftmut und Freundlichkeit, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit. Während er den Verstandestugenden die Belehrung zuordnete, sprach er beim Charakter von Gewöhnung (ethos) aufgrund von vernünftiger Einsicht in das rechte Maß. So ordnete er das Ehrbewusstsein zwischen den Extremen Ehrsucht und Ehrgeizlosigkeit, Seelengröße zwischen Aufgeblasenheit und Niedersinnigkeit. Seine umfangreichste Untersuchung galt der Gerechtigkeit.

 

Aristoteles begnügte sich jedoch nicht damit, Eigenschaften für das Leben in der Gemeinschaft zu ordnen und vernunftvoll zu regeln, sondern er wollte das zu erstrebende Glück auch inhaltlich bestimmen. Anders als Platon, der sinnliche Freuden als minderwertig erachtete, betrachtete Aristoteles die natürlichen Bedürfnisse, die wir auch mit den anderen Lebewesen teilen, als zum menschlichen Leben hinzu gehörig. Auch wertete er Herkunft, Wohlstand, wohlgeratene Kinder und Schönheit durchaus als Glücksfaktoren - wobei er zugleich gegen die pure Orientierung nach Reichtum und Lust philosophierte. Seine Grundgedanke war jedoch, dass der Mensch dann zur Glückseligkeit gelangt, wenn er sich seinem spezifisch menschlichen Wesen und der kosmischen Ordnung gemäß entfalten kann. Spezifisch menschlich aber ist die mit Vernunft verbundene Tätigkeit der Seele. Der Mensch lebt umso optimaler, je mehr er tatsächlich in Hinblick auf diese kosmische Bestimmung tätig ist. Damit war das Charakteristische an der  griechisch-philosophischen Vorstellung von Glück genannt. Als höchste Befriedigung wurde das Eintauchen in eine Welt des Denkens angesehen. Dies wurde als höchstes, ja göttliches Glück empfohlen. Göttlich ist das Unbewegte, das sich ewig selbst denkt, der Mensch nimmt Anteil daran, so die metaphysische Lehre des Aristoteles. 

 

 

 

Thomas von Aquin (1224-1274)

 

Im Unterschied zur platonischen gerät die aristotelische Philosophie für lange Strecken in Vergessenheit; erst im späten Mittelalter kehrt sie aus dem arabischen Raum ins abendländische Denken zurück und wird von Thomas von Aquin aufgegriffen. Dessen Umformulierung des aristotelischen Tugendkatalogs bringt aber zu Tage, was längst zum allumfassenden Prinzip geworden ist und sich schon Jahrhundert zuvor bei Augustinus (354-430) findet: Philosophie ist die Schau Gottes und die Liebe zu Gott, der Philosoph ist der Liebhaber Gottes, doch vollzieht sich diese Liebe in der reinen Liebe des Menschen zum Menschen. Auch handelte es sich längst nicht mehr um eine kleine Denkschule irgendwo in Griechenland, sondern um eine religiöse Lehre, die sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet hat. Die Bestimmungen, mit denen Thomas den Tugendkatalog erweitert, sind Liebe (caritas),  Hoffnung (auf ein ewiges Leben) und Glaube an Gott. 

 

 

Thomas Hobbes (1588-1679)

 

Thomas Hobbes, einer der ersten neuzeitlichen Denker, sah die Wurzel der Moral nicht im Guten, wie dies für Platon gilt, sondern, ganz im Gegenteil, im menschlichen Egoismus. Von Natur aus sei der Mensch nicht gut, sondern aggressiv, gierig, aber auch furchtsam. Zwei Menschen, die das Gleiche zu erreichen versuchen, werden damit automatisch zu Feinden, so meinte Hobbes, und da alle nach Gewinn, Sicherheit und Ansehen streben, kommt er zum Schluss: „Und hieraus folgt, dass Krieg herrscht, solange die Menschen miteinander leben, ohne eine oberste Gewalt, die in der Lage ist, die Ordnung zu bewahren. Und es ist ein Krieg, den jeder einzelne gegen jeden führt.“  

 

Hobbes schrieb sein Werk „Leviathan“ vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkriegs. Auch fragwürdige Informationen über das Leben der nordamerikanischen Ureinwohner ließen ihn einen kriegerischen Naturzustand menschlichen Zusammenlebens annehmen. Jener Naturzustand sei ein Krieg aller gegen alle, weil auf sich allein gestellt „der Mensch dem Menschen ein Wolf“ sei. Selbst die Moralität erfolgt für Hobbes aus jener grundsätzlich egoistischen Natur des Menschen. Es ist pure Selbstsucht, die den Menschen treibt, sich einer Staatsmacht zu unterwerfen und einen Gesellschafsvertrag zu schließen. Der Staat, der das Gewalt- und Herrschaftsmonopol erhält, garantiert den Bürgern inneren Frieden und den Schutz nach außen, die Bürger akzeptieren dafür die Gesetze und die Herrschaft des Staates. Für Hobbes war es grundsätzlich vernünftig, wenn ein strenger Herrscher über das Volk regiert und Menschen ihre Freiheit gegen Sicherheit tauschen. 

 

Die Konzeption von Thomas Hobbes begründet den Rechtsstaat, dessen Macht mit Blick auf die Einhaltung von Gesetzen akzeptiert wird. Sie wird als Schutz verstanden und dient folglich dem Selbstinteresse. Ein solcher "Gesellschaftsvertrag" zwingt die Menschen jedoch nicht dazu, sich hilfsbereit, verständnisvoll und höflich zu verhalten. Daher scheint es fraglich, ob die Einhaltung moralischer Regeln, für die keine staatliche Autorität sorgt, durch einen solchen Vertrag begründet ist. 

 

 

David Hume (1711-1776)

  

Lassen sich die Forderungen der Moral durch Eigeninteresse begründen? Der schottische Philosoph David Hume bringt die Übereinkunft der Moral, die weder staatlicher Autorität noch persönlicher Sympathien bedarf, auf den Punkt: „Dein Korn ist heute reif, das meinige wird es morgen sein. Es ist für uns beide vorteilhaft, dass ich heute bei dir arbeite und du morgen bei mir. Ich habe keine Neigung zu dir, und weiß, dass du ebenso wenig eine Neigung zu mir hast.“ Das gemeinsame Interesse führt nach Hume also zur Anerkennung der Regel der Hilfsbereitschaft. Diese Regel etabliert sich als fester Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens, ohne dass ein explizites Versprechen, Hilfe zu leisten, oder ein Vertrag notwendig wären. 

 

Dabei ist Humes Menschenbild realistischer als jenes von Hobbes. Nach Hume bildet Eigenliebe - damit auch Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit - durchaus einen wesentlichen Faktor unseres Verhaltens, doch sind wir auch altruistischer Neigungen fähig. Das entscheidende Problem dabei: Unser Wohlwollen gegenüber uns Nahestehenden ist, wie Hume betont, zweifellos größer als jenes gegenüber fernstehenden Personen. Besonders das Verlangen „Güter und Besitz für uns und unsere nächsten Freunde zu erlangen“, ist nach Hume „unmittelbar zerstörend für die Gesellschaft“. Um diese natürliche Neigung zu begrenzen, bedarf es, wie Herlinde Pauer-Studer zur Ethik Humes schreibt, künstlicher Institutionen. 

 

Doch ist Hume Ethik nicht auf die Sichtweise der Übereinkunft zum beiderseitigen Vorteil, der Vertragstheorie, beschränkt, sondern er entwickelt zugleich eine Ethik der Empfindungen und Eigenschaften, eine Tugendethik. Zu solchen Tugenden zählt Hume: 

  • Natürliche Abneigung gegen das Übel und Neigung zum Guten
  • Positive Haltungen wie Güte, Wohlwollen, Menschlichkeit, Treue, Besorgtheit um andere, Sanftmut, Wohltätigkeit, Barmherzigkeit, Großmut, Milde, Mäßigung und Redlichkeit
  • Anlagen, die uns selbst nützlich sind, wie Fleiß, Ausdauer, Geduld, Tätigkeit, Wachsamkeit, Beständigkeit, Sparsamkeit, Entschlossenheit
  • Eigenschaften, die anderen angenehm sind, wie Beredsamkeit, Witz und gute Laune

Hume nennt als Kriterium für wünschenswerte Tugenden die Überlegung, welche Eigenschaften man als unparteilicher Betrachter an sich selbst wünschen würde. Ebenso fragt er in „Ein Traktat über die menschliche Natur“ danach, ob solche Eigenschaften bei den Menschen, mit denen wir zu tun haben, Zustimmung oder Ablehnung auslösen. Damit bildet das Mitgefühl, die Empathie für andere, ein Kernstück von Humes Reflexion zur Moral. 

 

Humes Moraltheorie verkörpert damit eine Spannung von einerseits aufgeklärtem Eigeninteresse und andererseits Tugenden, die dann doch gefordert werden. Hume: „So ist Eigennutz das ursprüngliche Motiv zur Festsetzung der Rechtsordnung, aber Sympathie für das Allgemeinwohl ist die Quelle der sittlichen Anerkennung, die dieser Tugend gezollt wird.“ (1)

 

 

 

Immanuel Kant (1724-1804)

 

In der Neuzeit gerät die Tugendethik für die Philosophie weitgehend in Vergessenheit. Der Grund dafür liegt darin, dass ihr metaphysischer Kontext fragwürdig wird. Die Ethik der Aufklärung bildet die Opposition zur Theologie. Damit verwirft sie die Angelegenheit der Charakterbildung und der eigenen Glückseligkeit. Immanuel Kant, der Aufklärungsphilosoph schlechthin, bestimmt die Frage nach dem moralisch gerechten Urteil als vorrangigen Gegenstand der Ethik. Die bis dahin so wichtige Frage nach dem Glück taugt nicht, um moralische Urteile zu fällen. Eigene Glückseligkeit kann alles Mögliche präferieren. Daher ist sie als moralische Regel nicht zu brauchen, meint Kant. Besonders kann sie mit selbstsüchtiger Absicht zu tun haben: Ob das so ist, kann allein die Vernunft klären. Daher gilt ein unbedingter Vorrang für die Vernunft. Ethik darf nicht hinter das als gültig erkannte Prinzip, den kategorischen Imperativ, zurückgehen (dazu später). Der Gegenstand der Glückseligkeit aus Nächstenliebe verschwindet damit nicht nur aus dem ethischen Diskurs, sondern aus der Philosophie und Wissenschaft überhaupt, erscheint er doch als viel zu eng an metaphysische Spekulationen geknüpft. Immanuel Kants Ethik bestimmt die philosophische Ethik in überwältigendem Maße bis in die Gegenwart. Ihre Bedeutung für das tatsächliche Leben ist aber sehr umstritten.

 

 

Da sich die hier vertretene Ethik als Tugendethik versteht, ist es wichtig, Kants Argumentation genau zu studieren. Im Sinne der Aufklärung möchte Kants Ethik eine Begründung von Moral leisten, die einzig auf vernünftigen Überlegungen fußt. Sie beginnt mit einer berühmten Definition des Guten: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden als allein ein guter Wille.“ Nirgendwo im Universum lässt sich etwas Gutes denken außer ein guter Wille. Alle anderen Vermögen können nämlich prinzipiell auch böse sein: „Verstand, Witz, Urteilskraft und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze, als Eigenschaften des Temperaments, sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen soll und dessen eigentümliche Beschaffenheit darum Charakter heißt, nicht gut ist.“

 

Nach Kant garantieren die Tugenden für sich noch kein uneingeschränkt Gutes. Ja, sogar die Selbstlosigkeit kann prinzipiell zu etwas Bösem dienen, etwa um unter Missachtung des eigenen Lebens ein terroristisches Verbrechen zu begehen. Auch die so genannten „Glücksgaben“ garantieren noch lange nicht das Gute: „Macht, Reichtum, Ehre, selbst Gesundheit, und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande, unter dem Namen der Glückseligkeit, machen Mut und hierdurch öfters auch Übermut, wo nicht ein guter Wille da ist, der den Einfluss derselben aufs Gemüt, und hiermit auch das ganze Prinzip zu handeln, berichtige und allgemein zweckmäßig mache…“ Kants Argumentation richtet sich klar gegen eine Tugendethik, wie sie von Aristoteles begründet wurde: „Mäßigung in Affekten und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüchterne Überlegungen sind nicht allein in vielerlei Absicht gut, sondern scheinen sogar einen Teil vom inneren Werte der Person auszumachen; alleine es fehlt viel daran, um sie ohne Einschränkung für gut zu erklären (so unbedingt sie auch von den Alten gepriesen worden). Denn ohne Grundsätze eines guten Willens können sie höchst böse werden, und das kalte Blut eines Bösewichts macht ihn nicht allein weit gefährlicher, sondern auch unmittelbar in unseren Augen noch verabscheuenswürdiger, als er ohne dieses dafür würde gehalten werden.“ Alle Eigenschaften, Gefühle, Tugenden und Ziele können sich unter bestimmten Bedingungen als schädlich oder böse erweisen. Immer ist eine Situation denkbar, wo sich das Gute in sein Gegenteil verkehrt (2). Der einzige Punkt, an dem das Gute rein ist, ist der Wille, der allen Handlungen vorausgeht. Was aber ist ein guter Wille? 

 

 

Kants Ethik versteht sich als Pflichtethik, als Selbstverpflichtung auf ein moralisches Prinzip, den kategorischen Imperativ. Dieser besagt, dass die Intention (Maxime), die wir mit einer Handlung verknüpfen, verallgemeinerbar sein muss. Diese Verallgemeinerung meint, dass sie ein allgemeines Gesetz abgeben können muss. Tut sie das nicht, besteht kein guter Wille und nach Kant wohl auch kein moralisches Handeln. Beispiel: Ich möchte Geld aus der Firmenkassa stehlen. Meine allgemeine Intention würde demnach lauten: Wenn ich in Geldnot bin, entwende ich Geld aus der Firmenkassa, wo ich beschäftigt bin. Auf ein Gesetz verallgemeinert bedeutet dies: Das Bestehlen der eigenen Firma ist Menschen, die in Geldnot sind, erlaubt. Hier sagt die Vernunft jedoch, dass ein solches Verhalten der Wirtschaft schweren Schaden zufügen würde. Das System der Wirtschaft würde aufgrund mangelnder Integrität und Korruption kaum funktionieren, übermäßige Ressourcen müssten in Schutzmaßnahmen fließen, allgemeines Misstrauen und hohe Arbeitslosigkeit wären die Folgen. Damit würde sich die Not erst recht vergrößern. Das Testverfahren des Kategorischen Imperativs weist meine Absicht daher als unmoralisch aus. Wörtlich lautet es u.a.: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. 

 

Dies gilt übrigens auch für das Schwindeln bei Prüfungen! Zu einer allgemeinen Regel erhoben, würde es der Idee der Prüfung widersprechen. Die Frage, ob Prüfungen überhaupt sinnvoll sind, wird hierbei natürlich nicht gestellt. Kant wendet sich schließlich auch gegen die Goldene Regel. Es ginge nicht darum, die eigenen Motive schlicht zu verallgemeinern, beispielsweise: Ich stehle gerne Bücher, und von mir aus können alle anderen auch Bücher stehlen! Dem Kategorischen Imperativ geht es jedoch um eine Verallgemeinerung, die im vernünftigen Interesse aller stehen soll. Zu einer allgemeinen Regel erhoben, hätte im Beispiel der Bücherdieb bald nichts mehr zu stehlen - und vermutlich wäre er auch sein Diebesgut rasch wieder los. Er denkt ja auch nicht daran, seine Maxime zu verallgemeinern! Es gelten also nur solche Maximen, die den Anspruch stellen dürfen, vernünftig zu sein. 

 

Aber was ist mit der Liebe zu unserem Nächsten, mit Mitgefühl und Barmherzigkeit? Nach Kant können solche Empfindungen nicht eingefordert werden, wogegen wir aber unseren Willen mit großer Freiheit bestimmen. Dies sei schließlich unsere Pflicht (3). Böse aber sei es, unsere Eigenliebe über die Maximen der Vernunft zu stellen. 

 

Kants zweiter Grundgedanke betrifft den unveräußerlichen Wert des Menschen. So lautet eine weitere Formulierung des Kategorischen Imperativs: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel betrachtest.“ Wir wissen immer schon irgendwie, dass anderen die gleichen Rechte und Pflichten zukommen wie uns selbst. Kant möchte diesem Verständnis, was ethisch korrektes Handeln ist, eine Formel geben. Nur wenn jeder Mensch Zweck an sich ist, kommen ihm kategorische Rechte zu. Die Überzeugung findet sich schließlich auch als Basis der Menschenrechte. Hierbei ergibt sich ein gewisses Spannungsfeld zur utilitaristischen Ethik, die nicht den guten Willen, sondern einzig die Folgen unserer Handlungen ins Zentrum stellt.

 

 

 

Utilitarismus: John Stuart Mill (1806-1873)

 

Der antiken Ethik ging es darum, Überlegungen anzubieten, die dem Menschen ein glückliches Leben ermöglichen sollen. Dabei wurde auch das gelungene Leben in der Gemeinschaft berücksichtigt. In der Moderne, nach Jahrhunderten christlicher Ethik, stellt sich die Frage nach der Moral neu. Was das Gute sei und wie es zu realisieren sei, soll nun ausschließlich durch Vernunft beantwortet werden. Die Frage, was ein gelungenes, glückliches Leben eigentlich ausmacht, tritt in den Hintergrund (und wird später zum Thema seichter Psychologie). Ebenso verliert sich der Optimismus, dass ein Streben nach dem Guten der Weg zum Glück sei. Die Suche gilt einer allgemein gültigen Moral. Da aber Glück für jeden etwas anderes sein kann, lassen sich daraus keine allgemeinen Regeln des Zusammenlebens formulieren, die Verbindlichkeit beanspruchen dürfen. 

 

Dennoch bildet der Utilitarismus, der auf die Engländer Jeremy Bentham (1748-1832) und John Stuart Mill zurückgeht, einen Anschluss an die Glücksethik. Die Utilitaristische Moral hat zum Ziel, das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl zu erreichen. Unser Handeln soll in dieser Hinsicht den größtmöglichen Nutzen erzielen, denn gut ist, was nützt. Der Einzelne, die Gemeinschaft und die Politik sollen danach trachten, dass die Zahl der Glücklichen und auch die Qualität des Glücks zunehmen. Die philosophische Diskussion, die daraus entstand, versuchte zu konkretisieren, was unter einer Qualität des Glück zu verstehen ist. Dazu ein Beispiel: Helikoptergeld ist eine ökonomische Notmaßnahme um den Konsum anzukurbeln. Dabei wird an alle Menschen neu geschaffenes Geld ausgeschüttet. Ist es gleichbedeutend, ob wir das Geld verwenden, um uns mit Süßigkeiten einzudecken, oder aber Karten fürs Theater kaufen? 

 

Der Utilitarismus nennt jene Moral, die dem sozialen Staat zugrundeliegt, wenn er allen Menschen Bildung, Berufs- und Aufstiegschancen sowie Wohlstand zum Erwerb von Gütern ermöglichen will, statt bloß einer aristokratischen Minderheit zu dienen, wie es zur Entstehungszeit des Utilitarismus noch üblich war. Probleme der utilitaristischen Moral liegen vermutlich in der Tendenz, ausschließlich zum Wohl der Mehrheit und im Konfliktfall gegen die Bedürfnisse von Minderheiten zu entscheiden sowie die Lebensmöglichkeiten des Einzelnen über Mehrheitsverhältnisse zu sehr zu beschneiden.  

 

 

Friedrich Nietzsche (1844-1900)

 

Vielleicht kann die jeweilige Moral als Antwort auf die spezifischen Bedürfnisse einer Gesellschaft und ihrer Menschen verstanden werden. Der Philosoph Friedrich Nietzsche wollte sich bezüglich der menschlichen Natur keinen Illusionen hingeben. Besonders verachtete er die christliche Moral. Tugenden wie Demut, Barmherzigkeit oder Mitleid sah er als Ausdruck einer Sklavenmoral, entworfen von den Schwachen, um die Starken und Mächtigen als Böse zu verurteilen, sich selbst aber als gut zu stilisieren: „Gesetzt, dass die Vergewaltigten, Gedrückten, Unfreien, Ihrer-selbst-Ungewissen und Müden moralisieren: was wird das Gleichartige ihrer moralischen Wertschätzung sein? (…) werden die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern: hier kommt das Mitleiden, die gefällige hilfsbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiß, die Demut, die Freundlichkeit zu Ehren -, denn das sind hier die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral ist wesentlich Nützlichkeits-Moral.“ Für Nietzsche kann alle Moral nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Menschen letztlich nur von einem Motiv bewegt werden: dem Willen zur Macht. Moral ist nach Nietzsche nur ein Mittel, mit dem die Ohnmächtigen dem Willen zur Macht folgen. 

  

 

John Rawls (1921-2002)

 

Der amerikanische Philosoph John Rawls vertritt in seinem einflussreichen Werk "A Theorie of Justice" den Grundsatz der unverletzlichen Würde, die jedem Menschen zukommt: "Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohls der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher läßt es die Gerechtigkeit nicht zu, daß der Verlust der Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird."

 

Rawls stellt die Frage nach Grundsätzen der Gerechtigkeit, die die politische Struktur der Gesellschaft festlegen sollen. Wie sollen der zur Verfügung stehende Wohlstand und die Macht verteilt sein? Soll sich Gerechtigkeit nach der Leistung der Menschen orientieren oder nach deren Bedürfnisse? Dies scheint eine Frage des Standpunkts zu sein. Muß es denn nicht, wenigstens der Idee nach, eine Position geben, von der aus man die von den verschiedenen Standpunkten geltend gemachten Maßstäbe - Leistung oder aber Bedürftigkeit - ihrerseits beurteilen kann? Das wäre eine Position der Unparteilichkeit. 

 

Rawls versucht diese Unparteilichkeit durch ein sehr bekannt gewordenes Gedankenexperiment zu ermöglichen: Der Schleier des Nichtwissens. Mit diesem Gedankenexperiment sind Menschen gemeint, die über die zukünftige Gesellschaftsordnung entscheiden können, aber selbst nicht wissen, wer sie in dieser künftigen Gesellschaft sein werden. Sie kennen weder ihre künftige Hautfarbe und Ethnie, ihr Geschlecht oder ihre Religion, ihren sozialen Status, ihren Besitz, ihre Intelligenz und Körperkraft, ihr zukünftiges Alter, noch wissen sie, ob sie besonders risikofreudig und optimistisch sein werden und in welchen ökonomischen, kulturellen, politischen, zivilisatorischen Bedingungen sie sich finden werden. Sie besitzen demnach gleiche Interessen, die weder aufeinander noch gegeneinander gerichtet sind. Rawls stellt dazu die Frage: Für welche Gerechtigkeitsgrundsätze werden sich diese freien und vernünftigen Menschen in einer fairen und gleichen Ausgangssituation in ihrem eigenen Interesse entscheiden?

 

Rawls argumentiert, dass zwei Grundsätze gewählt würden. Einmal wird ein System gleicher Grundfreiheiten gewollt. Es ist nicht erlaubt, dass zugunsten der Güterverteilung auf Freiheiten verzichtet wird. Zweitens sollen soziale und ökonomische Ungleichheiten zwei Bedingungen erfüllen: 

  • Menschen sollen ungeachtet ihrer anfänglichen Stellung in der Gesellschaft bei gleicher Begabung gleiche Aufstiegschancen besitzen. Besitzen sie vergleichbare Fähigkeiten und vergleichbaren Fleiß, sollen sie die gleiche Chance besitzen, Ämter und Positionen zu erreichen. Demnach sollen beispielsweise Stipendien allen Menschen eine gute Berufsausbildung ermöglichen. 
  • Darüber hinaus fordert Gerechtigkeit, dass ökonomische Ungleichheit den am wenigsten begünstigten Bürgern den größten Vorteil bringt. Die am schlechtesten Gestellten und die weniger Begabten sollen aus der Ungleichheit einen Nutzen ziehen. 

 

Wie lassen sich diese Forderungen der Gerechtigkeit in Hinblick auf die Verteilung des Wohlstandes interpretieren? (Ich muss zugeben, Rawls bisher kaum gelesen zu haben.)

Der utilitaristische Leitsatz für ökonomische Fragestellungen lautet, das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen zu ermöglichen. Nach einer solchen Rechnung ist also eine Umverteilung des Wohlstandes, besonders über Steuern, zu vertreten, da dies die gemeinsame Summe des Glücks mehrt. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass eine erfolgreiche gemeinsame Wirtschaftsleistung davon abhängt, dass Leistung erbracht wird. Leistung sollte also durch Wohlstand belohnt und die Abwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte vermieden werden. Umverteilung des Wohlstandes darf diesen Anreiz, Leistung für die Wirtschaft zu erbringen, nicht mindern! Dies trifft sich mit Rawls Beurteilung der Ungleichheit. Nach seinem Imperativ sollte sie sich auf die Schwächsten der Gesellschaft positiv auswirken. Reiche sollen durch die Steuerlast nicht zu sehr gebremst werden, damit sie sich entfalten können. Denn ihr wirtschaftlicher Erfolg zieht gleichermaßen die Schwächsten nach oben. 

 

Linke Politiker konstatieren demgegenüber ein Auseinanderdriften der Gesellschaft. Immer mehr Menschen müssen Monat für Monat kämpfen, um mit ihrem Einkommen auszukommen. Die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert sich zunehmen. Und obgleich die vergangenen Jahrzehnte enorme technische Fortschritte brachten, ist vielen Menschen die Vorstellung, dass es der nächsten Generation, den Kindern, einmal besser gehen wird, abhanden gekommen. Die Realität, so scheint es, entspricht dem Imperativ von John Rawls, wonach wirtschaftliche Freiheit zugleich jedem Menschen ermöglichen soll, seine Fähigkeiten zu entwickeln, entsprechende Aufstiegschancen zu erhalten und schlussendlich gut leben zu können, zunehmend weniger. Vielmehr ist es der Umstand, aus welcher Familie man kommt und welchen Reichtum man erbt, der an Bedeutung gewinnt. Und dieser Reichtum beruht dann sehr oft nicht mehr auf eigener Leistung, sondern auf der Arbeit anderer. Denn große Unternehmen, die in aller Regel sehr gewinnträchtig sind, werden professionell geführt und ermöglichen den Eigentümern extrem hohe Einkommen ohne Leistung. 

 

 

Deutlicher noch wird dies am Wertzuwachs städtischer Grundstücke. Seit Jahrzehnten ereignet sich der Zuwachs an Produktivität beinahe ausschließlich in den Großstädten, nicht jedoch am Land und in Kleinstädten. Da Spezialisierung und Globalisierung für moderne Unternehmen immer wichtiger werden, suchen sie zentrale Standorte. So ziehen immer mehr Arbeitskräfte in die Metropolen und die Preise für Grundstücke und Mieten steigen und steigen. Ökonomisch gesprochen steigen die Mieten so lange, bis der Lohnvorteil im städtischen Raum aufgezehrt ist und es folglich keinen Anreiz mehr für einen Zuzug von Mietern gibt. Die Gewinne, die prosperierende Großstädte erzeugen, fließen also (abgesehen von hohen Gehältern für besonders gesuchte Arbeitskräfte) den Grundstückseigentümern zu. Doch ist die hohe städtische Produktivität die Leistung aller daran beteiligten Menschen. Der Beitrag der Grundstückseigentümer ist  ausschließlich jener, eben zufällig städtische Grundstücke zu besitzen. Nach vernünftigen ethischen Maßstäben steht ihnen der Wertzuwachs ihrer Grundstücke und die aus der Vermietung resultierenden Gewinne weniger zu, als wenn sie dafür gearbeitet hätten. Es bedarf daher politischer Maßnahmen, etwa eine Deckelung von Mietpreisen und die entsprechende Besteuerung großer Immobilienvermögen. Eine solche Besteuerung hat auf die Produktivität der Metropole keinen negativen Effekt und führt zu keine Abwanderung Hochqualifizierter. Das Problem zeigt sich in der Praxis nicht allein darin, die Höhe des Steuersatzes zu bemessen.  In der Praxis zeigt sich außerdem das Problem der Steuerflucht. (5)

 

 

Jürgen Habermas

Anmerkungen

 

(1) Aus Sicht der Evolutionstheorie lässt sich sicher nicht behaupten, dass es eine ewige und unveränderliche „Idee von Pferd“ etc. gibt. Dennoch hat die Ideenlehre vielleicht grundsätzliche Relevanz. Einer Erzählung zufolge verhalten sich manche Quantenphysiker gegenüber ihrem Fachgebiet in schizophrener Weise. Solange sie sich im Labor aufhalten, sind sie Realisten. Dort sprechen sie von Photonen und Elektronen, die sich hierhin und dahin bewegen. Sobald sie jedoch in eine philosophische Diskussion über die Grundlagen der Quantenphysik verwickelt werden, behaupten der Erzählung zufolge die meisten, ohne die Messapparate, die die Eigenschaften der Dinge definieren, existiere nichts wirklich. 

 

(2) Hume betrachtet den Rechtssinn nicht als natürliche, sondern als künstliche Tugend.  

 

(3) Vgl. Abschnitt: Soll Ethik vor Moral warnen? 

 

(4) Auch Adolf Eichmann, der an anderem Ort thematisiert wird, rechtfertigte vor Gericht seinen Massenmord mit der Ethik Kants, wonach er also aus Pflicht gehandelt hätte. Doch meint der Pflichtbegriff bei Kant keinen bedingungslosen Gehorsam gegenüber staatlichen Institutionen. Im Gegenteil verpflichtet nur die Vernunft, nicht aber staatliche Institutionen, religiöse Lehren oder Traditionen. 

(5) Superreiche sind exponierter als andere, sie finden oft Nachahmer. Vermeiden sie Steuern, bekommen das viele Steuerzahler mit und orientieren sich daran. Wie die beeindruckende Giving Pledge Initiative zeigt, besitzen nicht wenige Milliardäre aber auch Bereitschaft, einen substatiellen Teil ihres Reichtums für das Gemeinwohl zu geben. Eine Möglichkeit, Steuervermeidung zu bekämpfen, besteht darin, reichen Steuerzahlern mehr Information über die konkrete Verwendung ihrer Gelder zu ermöglichen, so eine Empfehlung der OECD. Reiche fürchten oft, dass ihr Steuergeld in der Bürokratie der öffentlichen Hand versandet und nicht sinnvoll ausgegeben wird. Sie würden sich deshalb mehr Mitsprache wünschen. So ließe sich die Bereitschaft erhöhen, zum öffentlichen Gut beizutragen. 

 

 

 

Literatur: 

Konrad Paul Liessmann: Vom Nutzen und Nachteil des Denkens für das Leben ; WuV 1998

Dietmar Hübner: Einführung in die philosophische Ethik ; Vandenhoeck & Ruprecht 2014

Johann Mader: Einführung in die Philosophie ; Facultas 2005

Dalai Lama: Die Welt in einem einzigen Atom ; Herder 2005

Herlinde Pauer-Studer: Einführung in die Ethik ; Vandenhoeck & Ruprecht 2014