Einen wichtigen Aspekt von Ethik bildet die innere Motivation. Eine solche Motivation meint, nicht nur um das eigene Wohl, sondern auch um das Wohl unserer Mitmenschen besorgt und bemüht zu sein. Sind wir nämlich ehrlich (auch) um das Wohl unserer Mitmenschen bemüht, so folgen sehr oft die "moralisch" richtigen Handlungen von selbst. Doch wie kommt es zu einer solchen Motivation? Und wie lässt sie sich stärken und bewahren? Oder einfach gefragt: Warum sollen wir uns eigentlich um ehrliche Anteilnahme und ein fürsorgliches Empfinden für unsere Mitmenschen bemühen?

 

Natürlich werden Menschen primär durch das Interesse an ihrem eigenen Wohl motiviert. Für eine dauerhafte Festigung einer moralischen Motivation können wir unser eigenes Wohl kaum aus dem Kalkül nehmen. Eine vollkommene Selbstlosigkeit wäre dem natürlichen Empfinden sicherlich ganz entgegengesetzt. Die Antwort auf die Frage der Motivation, die im diesem Abschnitt behandelt wird, möchte die Sorge um den eigenen Nutzen jedoch nicht ausschließen. Im Gegenteil wird ausführlich argumentiert, dass Fürsorglichkeit und ehrliche Anteilnahme nicht allein zum Nutzen derer sind, die sie empfangen. Denn wenn wir fähig sind, anderen mit Empathie und Hilfsbereitschaft zu begegnen, so hat dies auch einen Nutzen für unser eigenes geistiges, ja vielleicht sogar körperliches Wohlbefinden! Liebevoll zu empfinden und zu handeln, sollte uns daher nicht nur aus Pflichtgefühl ein tiefes Bedürfnis sein, sondern auch in Hinblick auf unser eigenes Menschsein.

 

Lässt sich diese Behauptung begründen? Menschen ticken doch sehr unterschiedlich. Wieso sollte es also für unsere eigene Zufriedenheit wichtig sein, hilfsbereit und mitfühlend zu sein? Um diese versteckte Bedeutung zu klären, ist es wichtig, unseren Blick auf die Bedürfnisse zu richten, die Menschen im Allgemeinen besitzen. Beispielsweise wollen Menschen in harmonischer Gemeinschaft mit der Familie und anderen Menschen leben. Und natürlich wollen wir alle gesund sein und nicht unter Krankheit und Schmerz leiden müssen. Und schließlich wollen wir nicht in Armut leben oder von ständiger Sorge vor Armut belastet sein. Zweifellos sind diese Faktoren für ein zufriedenes oder sogar glückliches Leben sehr wichtig! Wir werden diese Grundbedürfnisse nach Wohlstand, Gesundheit und Gemeinschaft genauer betrachten. Dabei wird sich ein einfacher Zusammenhang zeigen. Denn es ist natürlich so, dass solche glücklichen Umstände nur dann helfen können, ein zufriedenes Leben zu führen, wenn auch unsere innere Einstellung passt. Körperliches Wohlbefinden, ein gewisses Maß an Wohlstand und das harmonische Beisammensein mit anderen Menschen sind also Voraussetzungen, die auf eine zweite Ebene treffen müssen. Diese zweite Ebene liegt stärker noch in unserem Inneren. Oft ist sie nicht so sehr vertraut und gerät leicht aus dem Blick. Denn zumeist beschäftigen wir uns naturgemäß mit den äußeren Umständen. Daher ist es wichtig, die Art und Weise, wie wir unsere eigene Zufriedenheit denken und empfinden, zu reflektieren, um auch die Bedeutung der inneren Einstellung zu erkennen und uns immer neu bewusst zu machen!

 

Es soll im Weiteren also um die innere Einstellung zum eigenen Wohlbefinden gehen. Dabei wird sich zeigen, dass unserer Fähigkeit zu Fürsorglichkeit und liebevoller Verbundenheit eine entscheidende Rolle zukommt. Dabei gibt es in unserer Sprache eine Reihe von Begriffen, die dieses Potential ebenso benennen: Nächstenliebe, Empathie, Güte, Wohlwollen, Barmherzigkeit, Mitfreude, Herzenswärme. Auch wenn diese Begriffe nicht exakt das gleiche bedeuten, weisen sie doch allesamt auf eine Haltung hin, die ehrlich um das Wohl der Mitmenschen bemüht ist.

 

Gleich, ob wir von Fürsorglichkeit, Barmherzigkeit oder Nächstenliebe sprechen, soll damit also ein inneres Potential gekennzeichnet werden, das in uns Menschen in natürlicher Weise existiert. Es ist im Rahmen der Evolution und Entwicklung der Menschheit in ihrer Frühgeschichte und genauso in unserer persönlichen frühkindlichen Entwicklung angelegt worden. Fürsorglichkeit besitzt also einen sehr natürlichen Ursprung. Und sie ist ein Potential, das wir bewusst in uns fördern können! Starten wir nun aber mit der Untersuchung der Bedürfnisse nach Wohlstand, Gesundheit und Gemeinschaft.

 

 

 

Bedürfnisse

 

Wenn wir fragen, wonach sich menschliche Bedürfnisse und Wünsche richten, so lassen sich Grundbedürfnisse nennen, wie dies etwa der Psychologe Abraham Maslow in seiner bekannten Bedürfnispyramide tat. Demnach gibt es Grundbedürfnisse wie etwa das Bedürfnis nach Nahrung, nach Sicherheit und nach einer annehmbaren Wohnung. Es lässt sich annehmen, dass so genannte „höhere“ Bedürfnisse, die mit dem sozialen Leben, mit Anerkennung und Selbstverwirklichung zu tun haben, besonders hervortreten, wenn wir nicht von Sorge um Grundbedürfnisse wie etwa Nahrung belastet sind. Dies lässt sich am Beispiel Arbeit verdeutlichen. Sind die Grundbedürfnisse gesichert, geben Menschen sich nicht mehr mit jeder beliebigen Arbeit zufrieden und suchen interessante Aufgaben, um höhere Bedürfnisse zu stillen. Die meisten Arbeitsstellen bieten eine Art Gemeinschaft mit persönlichen Beziehungen. Ein Arbeitsplatz ist der Schlüssel zu Selbstachtung und Unabhängigkeit. Schließlich haben wir den Wunsch nach Selbstverwirklichung und möchten unsere Talente und Fähigkeiten in befriedigender Weise nutzen.

 

Doch sollten wir nicht denken, dass höhere Bedürfnisse erst dann entstehen würden, wenn die Grundbedürfnisse bereits gestillt sind. Dies ist nicht der Fall. Auch Menschen, die in großer Armut leben, besitzen das Bedürfnis nach Anerkennung. Dies zeigte eine Studie im Rahmen der Entwicklungshilfe sehr deutlich (1). Menschen  wünschen sich selbstverständlich und unabhängig davon, ob ihre Grundbedürfnisse gesichert sind, Anerkennung und Wertschätzung. Darüber hinaus sind nicht nur gegenwärtige Bedingungen für unser Wohlbefinden verantwortlich. Auch die Vorstellung eines zukünftigen Glücks und die damit verbundene Hoffnung müssen als wichtiger Bestandteil für unser Wohlbefinden gelten. 

 

 

 

Wohlstand

 

Wohlstand ist der erste Faktor für unser Wohlbefinden, den wir näher untersuchen wollen. Dabei steht außer Frage, dass ein gewisses Maß an materieller Sicherheit eine notwendige Voraussetzung für ein zufriedenes Leben darstellt. Ist diese Grundversorgung nicht gewährleistet, so ist ein Leben in Würde, wie es jeder Mensch verdient, nicht möglich. Das Wohlbefinden von Menschen, die in Armut leben müssen, ist untrennbar mit der Befriedigung von existenziellen Grundbedürfnissen wie Nahrung, Wohnen, Kleidung, Sicherheit, medizinische Versorgung, Berufstätigkeit und Bildung verbunden.

 

Auch ist die relative Armut zu nennen. Gerade in den letzten Jahrzehnten wurden viele Menschen mit ohnehin geringem Einkommen mit einer weiteren Verringerung ihrer finanziellen Möglichkeiten konfrontiert. Sie finden nur mehr Teilzeitbeschäftigungen und unsichere Beschäftigungsverträge und empfinden das Sinken der Möglichkeiten als sehr schmerzvoll. Für diesen Zusammenhang ist ebenso die Beurteilung der Zukunft von Bedeutung. Nach einer langen Zeit des Wirtschaftsbooms hat der Optimismus bezüglich der Zukunft Europas im letzten Jahrzehnt sehr gelitten. Viele Menschen erleben diese Entwicklung als beängstigend.

 

Dennoch ist es nicht so, dass wachsender Wohlstand all unsere Probleme lösen würde. Großangelegte Untersuchungen zur Lebenszufriedenheit in den reichen Industrieländern hatten zum Ergebnis, dass sich etwa 30 Prozent der Menschen als glücklich bezeichnen. Obgleich sich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts das inflationsbereinigte Einkommen, das den Haushalten zur Verfügung steht, in vielen industrialisierten Nationen mehr als verdreifacht hat, blieb dieser Wert etwa der gleiche! Es lässt sich daher kein deutlicher Zusammenhang von Wohlstandswachstum und gesellschaftlichem Wohlbefinden empirisch belegen. Ist das materielle Dasein abgesichert, so bringt ein weiterer Zuwachs an Wohlstand auf die Dauer keinen besonderen Mehrgewinn an Glück. Denn der höhere Wohlstand gilt alsbald als selbstverständlich und mit ihm steigen auch die eigenen Ansprüche und Erwartungen.

 

Wenn wir an unser eigenes Streben nach mehr Wohlstand denken, möchten wir diesen Befund, wonach mehr Wohlstand nur wenig Zuwachs an Zufriedenheit bringt, vielleicht in Zweifel ziehen. Zumindest sollten wir aber zugestehen, dass der Zusammenhang von Zufriedenheit und Wachstum des Wohlstandes relativ ist. Dazu ein Beispiel: Die Freude, die ein armer Mensch über ein neues Fahrrad empfindet, wird nicht geringer ausfallen als jene, die ein sehr wohlhabender Mensch für einen neuen und im Vergleich viel teureren Wagen empfindet! Mit anderen Worten: Die relativ kleine Geldmenge für den Erwerb des neuen Fahrrads bringt dem armen Menschen mehr an Glück als der gleiche Betrag dem reichen Menschen bringen würde. Der Reiche könnte mit derselben Geldmenge sein Glück kaum steigern. (2)

 

 

Kehren wir zurück zum Zusammenhang von Wohlstand und Zufriedenheit. Wohlbefinden orientiert sich nicht nur an objektiven materiellen Kriterien. Auch psychologische Faktoren sind beteiligt und können das Glück durch Wohlstand deutlich mindern. Teil unserer menschlichen Natur ist es, uns mit anderen zu vergleichen. Daher gelten manche unserer Wünsche dem Prestige, sind also darauf gerichtet, unseren Wohlstand gegenüber unseren Mitmenschen zu zeigen, zu signalisieren. Wir wollen uns mit Fahrzeug, Küche oder Urlaub anderen Menschen in unserem Umfeld zugehörig fühlen, nicht nachstehen und als arm gelten. Manche Menschen ziehen auch Befriedigung daraus, als besonders wohlhabend dazustehen und möchten darum eine besonders luxuriöse Küche oder einen besonders teuren Wagen vorzeigen können. Für die gemeinsame Glückssumme – erinnern wir uns an die Formel des Utilitarismus – entsteht dadurch vermutlich wenig Gewinn. Eher scheint es, dass große Unterschiede an materiellem Wohlstand für das Glück einer Gesellschaft nicht förderlich sind. Untersuchungen deuten darauf hin, dass ein relativ gleichmäßig unter der Bevölkerung verteilter Wohlstand mehr allgemeine Zufriedenheit bringt, wogegen eine sehr große Kluft zwischen Arm und Reich Unzufriedenheit bewirkt. Das Problem des Vergleichens besteht übrigens auch global. Vorstellungen vom Wohlstandsglück in den industrialisierten Nationen nähren die Unzufriedenheit in den ärmeren Ländern.

 

Natürlich bedeutet Reichtum Wahlmöglichkeit, Sicherheit und Freiheit. Dies verführt manche Menschen dazu, einfach nur immer mehr davon haben zu wollen, ohne dass dieser Reichtum dann noch von großem Nutzen für sie wäre. Ganz im Gegenteil zur Glücksversprechung kann die Besitzgier aber zu größeren Ängsten, Spannungen und Sorgen führen. Es entspricht der Realität, dass reiche Menschen nicht zwangsläufig glücklich und zufrieden mit ihrem Leben sind. Sie sind nicht einmal zwangsläufig frei von Missgunst und Neid. Daraus resultierende Streitigkeiten können das Glück restlos zerstören.

 

Als Antwort auf dieses komplexe Verhältnis von Wohlstand und Zufriedenheit sollten wir uns um ein gewisses Maß an Bescheidenheit bemühen. Wir sollten erkennen, dass eine solche materielle Bescheidenheit einen für unsere eigene Zufriedenheit notwendigen Wert darstellt! Dies meint jedoch keine Selbstaufopferung! Vielmehr geht es um die Fähigkeit, Befriedigung zu empfinden, ohne sogleich noch mehr haben zu wollen. In diesem Sinn meint Bescheidenheit die Beschränkung der eigenen Wünsche und Sehnsüchte. Das Bestreben, maßvoll zu leben und sich vernünftige Grenzen zu setzen, wirkt dem Gefühl der Frustration entgegen, das sich leicht ergibt, wenn man zu viel Sehnsucht auf materielle Dinge richtet.  

 

Damit soll jedoch nicht bestritten werden, dass die Sicherheit, wie sie Wohlstand gibt, für unser Wohlbefinden sehr zuträglich ist. Die Argumentation möchte nicht die Vorteile des Wohlstands leugnen, sondern für weitere Gedanken zu einem inneren Reichtum, der auf Liebe und Mitgefühl gründet, vorbereiten.

 

 

 

Gemeinschaft

 

Menschen sind soziale Wesen, sie leben immer schon in größeren Gemeinschaften, sind in Großgruppen eingebunden. Doch haben sich die Lebensformen im vergangenen Jahrhundert stark gewandelt. Das Beisammensein in der Dorfgemeinschaft ist häufig dem anonymen Leben in der Großstadt gewichen. Auch das Eingebundensein in ein von Religion und Brauchtum geprägtes gesellschaftliches Leben hat an Bedeutung verloren. Die Zugehörigkeit zur Großfamilie löst sich in modernen Zeiten zunehmend auf, da sie für eine industrialisierte Gesellschaft keine Notwendigkeit darstellt. Das reine Umgebensein mit Menschen, wie es das Leben in der Stadt kennzeichnet, kann dem resultierenden Gefühl der Isolation jedoch kaum entgegenwirken. Im Gegenteil kann der Anblick fremder Gemeinschaften sogar ein besonders unerfreuliches Gefühl des Ausgeschlossenseins bewirken. 

 

Häufig fehlt es im urbanen Bereich an Angeboten, die unterschiedlichste Menschen in nicht kommerzieller Weise zusammenführen und helfen, immer neue Kontakte entstehen zu lassen. Erst in jüngster Zeit ermöglicht das Internet eine neue Form sozialer Netzwerke, die dem Bedürfnis nach Austausch in Großgruppen entsprechen oder wenigstens teilweise Ersatz geben. Dennoch fühlen sich viele Menschen gegenüber der Gesellschaft, in der sie leben, entfremdet.

 

Unser Verhältnis zur größeren Gemeinschaft bildet sich durch zahlreiche, eher oberflächliche Beziehungen. Sie ergeben sich im Beruf ebenso wie in der Freizeit, wo wir gemeinsam Sport ausüben, in Chören singen oder Stammgäste in Lokalen sind. Solche Beziehungen wechseln, sobald sich die Umstände ändern. Tiefer noch benötigen wir jedoch verlässliche Beziehungen mit Menschen, denen wir vertrauen können. Umfragen zeigen, dass immer mehr Menschen wenige oder gar keine intimen Beziehungen besitzen. So wie die Entfremdung ist auch die Vereinsamung ein Hauptproblem unserer Gesellschaft.

 

Intimität bedeutet mehr als nur Beisammensein und gemeinsame Bedürfnisbefriedigung. Viele Menschen ziehen Kraft und Lebensfreude daraus, ihr innerstes Selbst mit anderen zu teilen. Intimität entsteht in besonders intensiver Weise durch Partnerschaft und Sexualität. Sie steht in natürlicher Verbindung mit dem Gefühl der romantischen Liebe, dem wir in einem späteren Abschnitt nachgehen wollen. Vertrauen und fürsorgliche Zuwendung geben die Grundlage für die Stabilität einer solchen Liebe. Klar ist aber auch, dass wir uns nicht immer im rauschhaften Zustand der romantischen Liebe befinden. Es als eine beträchtlich eingeengte Sichtweise, würden wir die Phase intensiver Verliebtheit als einzige Quelle erfüllender Intimität betrachten. Sehr überzogene Erwartungen würden uns fast zwangsläufig frustrieren.

 

Um den Gefühlen von Einsamkeit entgegenzuwirken, sollten wir nicht so sehr unsere unerfüllten Wünsche und beachten. Der Schlüssel, um solchen Problemen wirksam zu begegnen, liegt in der inneren Einstellung. Denn um die quälenden Gefühle zu mindern, braucht es das Bemühen um innere Anteilnahme und Warmherzigkeit. So können wir unsere Bereitschaft stärken, um Vertrauen und eine Stimmung der Güte zu erleben, die das Gefühl der Einsamkeit mindern. Dies kann die Art, wie wir mit anderen kommunizieren, positiv verändern. Wir können die Selbstbezogenheit, die aus Einsamkeitsgefühlen resultiert, mindern und auf die Bedürfnisse anderer Menschen besser eingehen. Auch führen Anteilnahme und Warmherzigkeit zu einer positiveren Grundhaltung, die sich dann in Gedanken und Ansichten spiegelt. Andere Menschen werden unsere Meinungen gerne teilen. So lässt die Kommunikation gegenseitige Sympathien aufbauen. Besonders aber entwickeln wir mit Anteilnahme und Warmherzigkeit gerade jene Eigenschaften, die Menschen an anderen Menschen schätzen. Echte Freundschaft entsteht und entwickelt sich auf der Grundlage von Vertrauen und Zuneigung, sie braucht das Gefühl gegenseitiger Achtung. Unsere innere Haltung braucht also eine solide Grundlage, um die passenden Beziehungen entstehen zu lassen. Zudem führt das Mindern der Egozentrik auch dazu, dass sich soziale Ängste verringern. 

 

In ähnlicher Weise können wir dem Gefühl gesellschaftlicher Isolation begegnen. Denn warmherzige Anteilnahme verstärkt den Wunsch, selbst etwas für die Gemeinschaft zu leisten. Dies gibt ein Gefühl der Sinnhaftigkeit und kann helfen, das Maß an gesellschaftlicher Anerkennung und Integration zu finden, das uns fehlt.

 

 

Gesundheit

 

Für einen Menschen, der permanent unter Schmerzen und Unwohlsein leidet oder dessen Gesundheitszustand sich laufend verschlechtert, dürfte es ausgesprochen schwer sein, eine positive Lebenseinstellung zu bewahren. Zusätzlich zur physischen Erkrankung kann starker emotionaler Schmerz entstehen. Doch reagieren Menschen auf die Nachricht einer Erkrankung sehr unterschiedlich. Und häufig sind sie, nachdem sie sich an die neue Lebenssituation aufgrund einer Erkrankung gewöhnt haben, nicht weniger glücklich als zuvor. Damit zeigt sich kein zwangsläufiger, direkter Zusammenhang mit Zufriedenheit und Glück. Weder ist jeder kerngesunde Mensch darum auch glücklich, noch sind alte Menschen, die körperlich gebrechlich sind, zwangsläufig unglücklich.

 

Für die Naturwissenschaft sind es die biologischen, die biochemischen und genetischen Faktoren, welche die körperliche Ebene unseres Erlebens bilden. Sie schaffen die materielle Grundlage, die uns auf die konkreten Umstände unseres Lebens emotional reagieren lässt. Manche Neurologen behaupten sogar, dass die durch Serotonin, Dopamin und Oxytocin ermöglichten Glücksniveaus entscheidend für unser tatsächliches Glück wären. Äußere Ereignisse hätten zwar Einfluss auf momentane Ausschüttungen, könnten das individuell festgelegte Schema aber kaum beeinflussen. Letztendlich wäre die längerfristige Glückssumme also gar nicht so sehr von den konkreten Lebensumständen - sofern diese halbwegs akzeptabel sind - abhängig.

 

In aller Regel sollten wir jedoch in Hinsicht auf unser geistiges Wohlbefinden von einer Bedingtheit durch äußere Faktoren, körperliche Faktoren und ebenso geistige Faktoren ausgehen. Denn einerseits gilt als erwiesen, dass etwa das Betreiben von Sport überaus positiv auf unser Wohlbefinden wirken kann. Ebenso können wir aber auch mittels kognitiver Prozesse, indem wir etwa unsere Erwartungen und Präferenzen reflektieren, auf die resultierenden Gefühle und Stimmungen Einfluss nehmen. Wir sind daher weder den Einflüssen der Umwelt noch der Chemie unseres Gehirns emotional und stimmungsmäßig vollkommen ausgeliefert.

 

Wir dürfen die körperliche Gesundheit nicht allein als Quelle des Glücks ansehen, sondern sollten einen ebenso entscheidenden Faktor in unserem mentalen Zustand, unseren Beweggründen und im Maß der liebevollen Zuneigung, die wir anderen entgegenbringen, erkennen. Ja, es scheint sogar möglich, dass wir durch aktives Bemühen um liebevolle Güte, Fürsorglichkeit und Mitgefühl selbst unsere Gesundheit in biologischer, hormoneller Hinsicht fördern können. Kommen wir damit zur Frage, was wir aus diesem bisherigen Befund zu den menschlichen Grundbedürfnissen ablesen können.

 

 

Innere Ebene

 

Die Argumentation zu Wohlstand, Gemeinschaft und Gesundheit weist auf unterschiedliche Ebenen der Zufriedenheit. Wir besitzen starke soziale Bedürfnisse, wünschen uns materielle Sicherheit und körperliche Gesundheit. Dabei sind wir allerdings mit Bedingungen konfrontiert, die nicht immer unseren Wünschen entsprechen und sich stets verändern können. Mitunter sind die Wünsche, die wir in Hinsicht auf unser Wohlbefinden hegen, auch gar nicht erfüllbar. Dies zeigt, dass wir uns mit unseren Wünschen und kognitiven Einstellungen beschäftigen müssen, damit wir besser mit Widrigkeiten aller Art fertig werden. Aber können wir diese zweite, innere Ebene, die für Glück mitverantwortlich ist, positiv stimulieren und beeinflussen?

 

Der Weg, der dafür vorgeschlagen wird, meint das Bemühen um solche Qualitäten, die über das bloße Eigeninteresse hinausgehen. Dafür wollen wir Mitgefühl, Fürsorglichkeit und verwandte Eigenschaften ins Zentrum rücken. Denn diese Empfindungen stehen in intensivem Zusammenhang mit Gefühlen der Sinnhaftigkeit und Gemeinschaftlichkeit. Um diesen tieferen Zusammenhang mit unserem Wohlbefinden plausibel und verständlich zu machen, werden wir diese Emotionen im nächsten Abschnitt aus dem Blickwinkel von Evolutionstheorie und auch mit Blick auf unsere individuelle frühkindliche Entwicklung untersuchen.

 

 

Anmerkungen

 

(1) Hier geht es um eine Studie, die im Rahmen der Entwicklungshilfe erhoben wurde. Das Forschungsprojekt fand in Lusaka, der Hauptstadt von Sambia, statt. Sambia ist ein im südlichen Afrika gelegener Binnenstaat.Sambia hatte um die Jahrtausendwende eine HIV Rate von zirka 20 Prozent. Möglicherweise ist Armutsprostitution ein für die katastrophale Verbreitung verantwortlicher Faktor. Als Folge sank die durchschnittliche Lebenserwartung zwischen 1990 und 2005 von 60 auf 40 Jahre. Vermutlich wurden 20 Prozent der Kinder, eine Million Kinder, zu Waisen, viele sogar obdachlos. Dennoch hat sich die Bevölkerung Sambias seit 1950 versiebenfacht. Es ist eine der weltweit am schnellsten wachsenden Bevölkerungen. 

 

Bei dem Forschungsprojekt ging es um das Verteilen von Kondomen. Dafür beauftragt wurden Barbiere bzw. Friseure. Dabei handelt es sich um zumeist arme Menschen, die in provisorischen Hütten am Straßenrand mit Haarschneidemaschinen ihre Dienste anbieten. Häufig bieten sie auch Trinkwasser, kopierte DVDs u.ä. zum Verkauf an. Die 1222 Barbiere, die von den Forscherinnen und Forschern mit dem Verkauf von Kondomen beauftragt wurden, wurden nach dem Zufallsprinzip in vier Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe erhielt pro verkauftem Kondom fast so viel Geld wie für einen Haarschnitt, umgerechnet etwa 20 Cent. Die zweite Gruppe erhielt wenig Geld, die dritte gar keine Bezahlung. Hier wurde allein der Idealismus angesprochen, etwas gegen die Ausbreitung von HIV zu leisten. Die vierte Gruppe schließlich wurde mit Anerkennung belohnt. Pro verkauftem Kondom gab es einen Stern auf ein Poster an der Hüttenwand. Diese Friseure hatten die Chance, schlussendlich als beste Verkäufer in einer Zeremonie vor Freunden geehrt zu werden. 

 

Im Laufe des folgenden Jahres wurden die Barbiere monatlich von den Forscherinnen zu weitläufigen Themen befragt: Worüber reden die Kunden? Wie zufrieden bist du mit deinem Leben? Wie viele Stühle gibt es im Salon? Wer kauft die Kondome? Dann, nach einem Jahr, kam die Studie zu einem Ergebnis. Dabei ging es aber nicht um Kondome, um HIV oder um Friseure. Es ging einfach nur darum, zu evaluieren, welche Gruppe sich besonders ins Zeug gelegt hat, am stärksten motiviert war. Hier zeigte sich, dass der Wunsch nach Anerkennung und Status die stärkste Motivation war, viel stärker als die Bezahlung, die die Vergleichsgruppe für den Verkauf erhalten hatte. Die „Status Gruppe“ hatte doppelt so viele Kondome verkauft wie die anderen Gruppen. Die Aussicht, als bester Verkäufer vor den Freunden geehrt und gefeiert zu werden - vermutlich in Verbindung mit dem Wissen, etwas gegen HIV geleistet zu haben - war die mit Abstand stärkste Motivation. 

 

Die Studie hat also unzweifelhaft gezeigt, dass Menschen sich selbstverständlich und unabhängig davon, ob ihre Grundbedürfnisse gesichert sind, Anerkennung und Wertschätzung wünschen. Die für die Studie verantwortliche Ökonomin, Esther Duflo, erhielt 2019 den Nobelpreis für Wirtschaft, nämlich dafür, Maßnahmen der Entwicklungshilfe nach besonders strengen wissenschaftlichen Kriterien zu untersuchen. Dies meint beispielsweise für eine solche Evaluierung Testpersonen nach Zufallsprinzip in Test- und Vergleichsgruppen einzuteilen, ähnlich wie dies bei der Testung von Medikamenten geschieht, wo die Vergleichsgruppe statt des Medikaments einen Placebo erhält. Für großangelegte und kostenintensive Maßnahmen der Entwicklungshilfe ist es notwendig, sehr genau zu erforschen, welche Schritte zielführend sind. 

 

(2) Die Frage der Verteilungsgerechtigkeit wird im Abschnitt "Philosophische Ethik - John Rawls" behandelt. 

 

 

 

Literatur: 

 

Dalai Lama: Rückkehr zur Menschlichkeit ; Bastei Lübbe 2013

Esther Duflo: Kampf gegen die Armut ; Suhrkamp 2013

Herman Hobmair (Hrsg.): Pädagogik ; Bildungsverlag EINS 2008

Herlinde Pauer-Studer: Einführung in die Ethik ; Facultas 2010

Christoph Henning u.a.: Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch ; Springer 2011