Eine mitfühlende Haltung meint, ehrlich und wahrhaftig um das Wohl der Mitmenschen bemüht zu sein. Wird Ethik in dieser Hinsicht verstanden, dann sind Regeln und Vorschriften nicht das zentrale Element. Das, was einer mitfühlenden Haltung widerspricht, erklärt sich zumeist von selbst. So lehnen beispielsweise die meisten Männer intuitiv ab, eine Situation körperlicher Überlegenheit auszunutzen, um Frauen sexuell zu belästigen. Ebenso würde es die wenigsten Menschen gutheißen, boshafte und falsche Gerüchte zu streuen, um anderen Menschen oder Menschengruppen zu schaden. Oft handeln Menschen aber dennoch in schädigender Weise. Daher ist es so wichtig, unser Urteilsvermögen um die vorteilhaften oder aber negativen Folgen bestimmter Emotionen, Haltungen und Verhaltensweisen zu schulen und uns darum zu bemühen, ein inneres Wertesystem zu entwickeln. 

 

Bei solchen Menschen allerdings, denen es an gutem Willen erheblich fehlt, würden auch Ethikbücher oder Lehren, die Regeln und Vorschriften vorgeben, kaum etwas bewirken. Vielmehr braucht es dann den Rechtsstaat, der mittels Sanktionen die Befolgung gesellschaftlicher Regeln unabhängig davon, ob es innere Zustimmung gibt oder nicht, erzwingt. Doch auch hier gilt, dass die Gesetze, Maßnahmen und Institutionen, die dem Recht Geltung verschaffen, nur wirkungsvoll sein können wenn die Menschen, die für ihre Umsetzung verantwortlich sind, die richtige Motivation aufweisen und entsprechend handeln. Missbrauchen Menschen dagegen aufgrund mangelnder persönlicher Integrität ihre Position, werden sie bald für die Allgemeinheit mehr Schaden als Nutzen stiften.

 

 Als Quelle moralischen Handelns gilt demnach das mitfühlende Denken. Dagegen ist die schädigende Wirkung von Gier, Intoleranz, Gleichgültigkeit und Hass vollkommen unzweifelhaft. Mitfühlendes Denken hat Verantwortungsgefühl zur Folge, dem große Bedeutung zukommt. Denn für wirklich komplexe Fragen der Gesellschaft, der Wirtschaft und Politik gibt es selten pauschal richtige Lösungen oder Ideologien. Um geeignete Maßnahmen ergreifen zu können, braucht es für die Analyse der konkreten Situation Verantwortungsgefühl. Darunter ist ein Denken zu verstehen, das sich über eine bloße Übereinstimmung mit geltendem Recht hinaus um das Wohl aller Menschen bemüht und die gegenseitigen Abhängigkeiten möglichst berücksichtigt.

 

Damit zu Niklas Luhmanns Kritik der Moral.

 

 

Muss Ethik vor Moral warnen?

 

Begeben wir uns ins Bayern der 1980er Jahre. Es tobt eine jahrelange, sehr heftige, teilweise von Gewalt geprägte Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und Polizei. Ziel der wütenden Proteste ist, die Errichtung einer Wiederaufbereitungsanlage für atomare Brennstäbe bei Wackersdorf zu verhindern. Kernkraftgegner errichten Lager im Wald und bekämpfen den Bau. Zunehmend schließt sich auch die lokale Bevölkerung dem Protest an. 1986, nach dem schweren Reaktorunfall in Tschernobyl, nehmen die Unruhen deutlich zu und eskalieren immer öfter. Die Polizei bringt Wasserwerfer und Reizgas, ja sogar Gummigeschoße zum Einsatz, eine gewaltbereite Gruppe unter den Protestierenden benutzt Stahlkugeln, Brandsätze, Steine. Im Zuge des jahrelangen Kampfes kommt es zu 4000 Festnahmen und 2000 Verurteilungen, bevor der Milliarden teure Bau eingestellt wird. 

 

Der Konflikt wird im ganzen Land, ebenso in Österreich, in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts heiß diskutiert. Niklas Luhmann, einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, nimmt 1989 in einem Interview Stellung. Er ist pro Kernkraft eingestellt, doch weist seine Kritik an den Ereignissen in Wackersdorf weit über die spezielle Thematik hinaus und reicht bis zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der gesellschaftlichen Funktion von Moral (1). Es ist sehr lohnend, über Luhmanns Vorwurf an die Moral nachzudenken. Doch sehen wir zunächst, was er zu den Demonstrationen meint. Der Soziologe meint, solche Kundgebungen würden sich durch unversöhnlichen Protest und maximale Forderungen auszeichnen, die keine ausgewogene Diskussion zulassen. Dabei würden vor allem durch Missachtung Normen gesetzt, welche nur ein Dafür oder Dagegen zuließen, ein gut oder böse. Luhmann beschreibt diese Haltung im Interview: „Ich achte dich nur, wenn du hier mitmarschierst, mitziehst, dieser Meinung bist, das auch für richtig hältst. Andernfalls achte ich dich nicht. Sobald also ein Dissens da ist, ist der Konflikt nahe, wo dann die eigene Missachtung mit heftigen Mitteln zum Ausdruck gebracht wird.“ 

 

Um Luhmanns Skepsis gegenüber den Protesten verständlich zu machen, wollen wir zunächst seine soziologische Philosophie betrachten. Sein Anliegen lautet: Wie funktioniert die Gesellschaft? Wie kommt es zu den weitgehend stabilen und eigenständigen Systemen innerhalb einer modernen Gesellschaft, in die sich der Mensch in familiärer, rechtlicher, politischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und religiöser Weise begibt? Betrachten wir dafür vergleichsweise ein Forum im Internet. Dabei finden wir zwei grundlegende Eigenschaften: 

  • Das Forum besteht aus den Beiträgen der User. Es besteht aus Kommunikation. 
  • Die Kommunikation gilt einem bestimmten Thema, beispielsweise könnte das Thema „Österreichische Börse“ heißen. Die Beiträge betreffen dann vorrangig Firmen, die an der österreichischen Börse gelistet sind. Naturgemäß handeln sie von der Preiserwartung für solche Aktien. Gilt das Forum dagegen beispielsweise dem Christentum, so sind die Themen gänzlich andere, nämlich christliche Metaphysik, Ethik, Glaubensrichtungen usw. 

Luhmanns Antwort auf die Frage, wie die in unterschiedliche Funktionssysteme aufgegliederte Gesellschaft funktioniert, lautet dementsprechend: Durch einen spezifischen Austausch von Kommunikation und Sinn, der die unterschiedlichen Systeme jeweils charakterisiert. Um die interne Kommunikation von gesellschaftlichen Funktionssystemen zu erleichtern, gibt es je nach Bereich unterschiedliche Codes, Funktionen und Medien. Beispiele dafür sind etwa: 

 

 

Politik 

Wissenschaft

Recht

Regierung/Oposition

Wahr/unwahr

Rechtmäßig/unrechtmäßig

Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen

Produktion neuer Erkenntnisse

Sicherheit & Entscheidung von Konflikten

Wahl

Theorien

Gesetze

 

 

Ausgehend von diesem gesellschaftlichen Kommunikationsmodell findet Niklas Luhmann zur Kritik an einer bestimmten Form von Kommunikation. Sehen wir auch dafür zuerst den Vergleich mit einem Diskussionsforum im Internet: Wer aktiv in einem Internet-Forum wie beispielsweise Facebook schreibt, wird bald merken, dass dort mitunter Leute mitmischen, die Streit suchen. Es gibt sogar eine eigene Bezeichnung für solche Zeitgenossen: Trolle. Das sind Menschen, die gar nicht konstruktiv sein wollen. Entscheidend ist dabei nicht die vollkommen andere Ansicht, die man ja respektvoll vortragen könnte, sondern es stehen Wertungen im Vordergrund, oder genauer gesagt: Trolle schütten gezielt Verachtung über ihren Gesprächspartner. Mühelos schaffen sie es, dass die schriftliche Unterhaltung sehr bald ins Destruktive kippt, wo um des Kaisers Bart gestritten wird und gekränkte Gefühle entstehen. 

 

Der Vergleich soll helfen, Luhmanns Kritik an einer bestimmten Form von gesellschaftlicher Kommunikation, welche die Verteilung von Achtung und Missachtung betrifft, zu verstehen. Das auf den ersten Blick Verwunderliche an Luhmanns Kritik einer solchen Kommunikation ist, dass er sie als „moralische Kommunikation“ bezeichnet. Doch aus einer streng empirischen und wertfreien Perspektive bedeutet Moral nach Luhmann kaum mehr als das Verteilen von Achtung oder aber Missachtung in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Statt Argumente auszutauschen, werden Andersdenkende dann verächtlich als Nazis oder Gutmenschen, Kommunisten oder Ausbeuter, Betonierer oder Ökospinner, kalte Rationalisten oder Esoteriker schubladisiert.  

 

Grundsätzlich gilt, dass Kommunikation Werte wie Redlichkeit, Verständnisbereitschaft, Fairness braucht, will sie gelingen. Für Luhmann bedeutet Moral jedoch besonders unvernünftige Emotionalisierung, welche sodann die genannten Voraussetzungen gefährdet, statt sie zu schaffen. Luhmann argumentiert, das ganze Moralisieren und Bewerten untereinander würde unsere Kommunikation bloß unnötig aufheizen und hätte für eine moderne Gesellschaft kaum einen funktionalen Sinn - außer vielleicht als Alarmfunktion, wenn etwas Grundsätzliches nicht passt. Doch insgesamt würde es zumeist bloß verhindern, zu einer konstruktiven Kommunikation zu finden. Er spricht von der Streitnähe der Moral, welche zum Kampf führen würde. 

 

Luhmanns so kritische Definition von Moral kann verwirren. In vormodernen Gesellschaften regelte Moral, beispielsweise die im Alten Testament festgeschriebenen Gebote und Verbote, beinahe alle für das gesellschaftliche Zusammenleben relevanten Angelegenheiten. So finden sich im dritten Buch Mose neben dem berühmten Gebot der Nächstenliebe auch zahlreiche Vorschriften zu Hygiene, Ernährung, Strafe, Priestertum, Prostitution, Sklaverei, Krankheit, Sexualität, Heirat, Rituale und Bräuche, zu Kleidung und Haartracht, Respekt gegenüber Älteren usw. Damit Vorschriften, die sehr unterschiedliche Lebensbereiche betreffen. Manche dieser Themen wurden im Lauf der Geschichte zwar vielleicht nicht gänzlich aus der Sphäre der Moral hinausgezogen, aber doch einer so strengen und pauschalen Regelung, wie sie das Alte Testament vorsieht, enthoben.

 

Um Klarheit zu schaffen, sei folgende begriffliche Unterscheidung vorgeschlagen: 

  • Recht fordert primär Gehorsam. Mittels Sanktionen kann der Staat Menschen dazu zwingen, Gesetze zu befolgen. Beispiel: Homosexualität ist in manchen Ländern illegal und wird rechtlich sogar mit der Todesstrafe bedroht. 
  • Moral: Moralische Normen drücken sich in gesellschaftlicher Achtung oder aber Verachtung, Abneigung und Empörung aus. Beispielsweise wird Homosexualität in Russland überwiegend tabuisiert, sie ist jedoch legal. 
  • Ethik behandelt dagegen die innere Zustimmung und das Nachdenken über Werte (sowie die Kunst des persönlich und gemeinschaftlich guten Lebens). Beispielsweise können wir zur Überzeugung gelangen, dass Homosexualität völlig natürlich ist und ihre Diskriminierung dem gesellschaftlichen Zusammenleben schweren Schaden zufügt. 

 

Kommen wir zurück zum Thema der Proteste gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Wenngleich Luhmann die Nutzung der Kernkraft befürwortete, billigte er sozialen Bewegungen grundsätzlich die Funktion zu, mittels Protest unspezifische Probleme in Systemstrukturen einzuführen. So führte die Umweltschutzbewegung ja schließlich zur Bildung und Etablierung einer neuen politischen Partei, den Grünen. Darüber hinaus hält Luhmann bestimmte Themen jedoch für generell ungeeignet, mit Moral in Zusammenhang gebracht, moralisch diskutiert zu werden. 

 

Nach Luhmann gilt es besonders, neuartige und komplexe Fragen, die etwa mit künftigen Risiken zu tun hätten, aus dem Themenbereich der Moral zu lösen. Luhmann deutet die moralische Entrüstung als eine Art fieberhafte Immunreaktion auf Probleme, wo Unwissenheit bezüglich künftiger möglicher Schäden besteht: „Und wie die Mediziner wissen, ist Fieber nicht ungefährlich.“ Der Soziologe argumentiert, dass es anhand der immer komplexer werdenden Probleme zunehmend seltener werde, dass moralische Kommunikation zum Ziel führe. Die schlichte Einteilung in gut/böse wäre nicht geeignet, solche vielschichtigen Sachverhalte zu verarbeiten, zu entwickeln und zu fördern. Werde beispielsweise die politische Unterscheidung von Regierung und Opposition mit dem Moralcode vermengt, die Opposition also für grundsätzlich schlecht oder böse erklärt, dann sei die Demokratie am Ende, argumentiert Luhmann. Dasselbe gelte für das Wissenschaftssystem mit seiner Codierung wahr/unwahr, für das Bildungssystem mit seinen Zensuren, ebenso auch für Liebesentscheidungen. Überall wäre die Ausdifferenzierung dieser Systeme zugleich eine Emanzipation von traditionellen moralischen Zwängen. Luhmann gelangt damit zu jenem pointierten Schluss, der den Titel dieses Abschnitts gibt: Eigentlich sei es Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen! Und er konstatiert der philosophischen Ethik eine beträchtliche Diskrepanz zur tatsächlich gelebten Moral. 

 

Das Problem konfliktträchtiger Spaltungen geht uns alle an! Wir sollten gegenüber uns selbst kritisch sein. Schwierige gesellschaftliche Situationen können widersprüchliche Gefühle erzeugen. Solche Widersprüche im Empfinden, sofern sie bestehen, sollten wir zulassen. Sie helfen, über das eigentliche Problem mehrdimensional nachzudenken. So gelangen wir zu reflektierten und differenzierten Ansichten, die einem komplexen Problem angemessen sind. Die eigenen Widersprüche dagegen nicht zuzulassen, kann dazu führen, dass wir stattdessen unsere ganze Aufmerksamkeit auf den politischen Feind richten. Statt uns mit der gesamten Situation zu befassen, sehen wir nur noch ein Böses, das zu bekämpfen wäre. Für ein sinnvolles Gespräch mit dialogbereiten Andersdenkenden ist eine Haltung der Missachtung jedoch begreiflicherweise ungeeignet. Darüber hinaus spielen Medien eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, moralische Erregung zu schüren! Es bedarf Achtsamkeit, um ein möglicherweise verborgenes Absicht in der Berichterstattung zu erkennen und sich nicht durch Medien manipulieren zu lassen. 

 

Wenn wir Luhmanns Überlegung vor dem Hintergrund der aktuellen Covid Pandemie bedenken, so erscheinen seine Warnungen aktueller denn je! Denn natürlich wird auch hier die Einschätzung der Gefährdung überaus kontrovers diskutiert. Ausgangsbeschränkungen oder das Herunterfahren von Teilen der Wirtschaft stoßen nicht bei allen Menschen auf Verständnis. Auch hier kommt es zu wütenden Protesten. Nehmen wir diesen Anlass, um die Frage nach der Legitimität von Protest innerhalb von Demokratie zu stellen. Inwiefern darf Gewalt in einer Demokratie als legitimes Ausdrucksmittel von Protest gelten?

 

Protest hat eine für die Demokratie wichtige Funktion. Er will über ein Problem informieren und zeigen, dass eine große Zahl Menschen in dieser Sache sehr engagiert ist. Er möchte Aufmerksamkeit erregen und oft eine neue Überprüfung von Entscheidungen herbeiführen. Für stabile Demokratien bedeutet Protest keine Bedrohung. Dennoch sollte er mit Respekt vor den Grundprinzipien der Demokratie einhergehen. Besonders ist Gewalt gegen Menschen abzulehnen. Dies gilt einmal, da es keine Regel gibt, wann Protest gerechtfertigt ist und wann nicht. Auch provoziert Gewalt und birgt immer die Gefahr der Eskalation in sich. Der Ausgang von Gewalthandlungen ist unvorhersehbar! Gewalt gegen Eigentum ist als Mittel, um Aufmerksamkeit zu erreichen, abzulehnen, da sie zur Abstumpfung führt und hohe Kosten verursacht. (2)

 

 

 

Kann der gute Wille böse Resultate bringen?

 

Braucht es vielleicht eine noch grundsätzlichere Warnung, komplexen Problemen vorschnell mit moralischen Urteilen zu begegnen? Betrachten wir dafür ein sehr komplexes Geschehen. Achten wir besonders auf die Rolle, die der Moral zukommt! 

 

In den Jahren 2007 und erneut 2011 kam es über den Handel an den Lebensmittelbörsen zu einer raschen Verdoppelung und Verdreifachung (!) der Preise für Grundnahrungsmittel wie Reis, Mais, Weizen, Soja. Vermutlich war neben Spekulation an der Börse, Dürre, steigendem Fleischkonsum, Bevölkerungswachstum, niedrigen Vorräten, auch die forcierte  Produktion von klimaschonenderen Biotreibstoffen für diese dramatische Verteuerung verantwortlich. Spätestens damit setzte eine globale Jagd nach Ackerland ein. Die Entwicklungsorganisation Oxfam schätzt, dass in Entwicklungsländern seit 2001 über 220 Millionen Hektar Land von ausländischen Investoren aufgekauft oder gepachtet wurden, was der halben Größe der Europäischen Union entspricht. 

 

Solche riesigen verhandelbaren Agrarflächen finden sich zumeist in afrikanischen Ländern wie Äthiopien, Kenia oder Uganda. Doch sind solche Landflächen nicht unbewohnt, sondern der traditionelle Lebensraum von Kleinbauern und Nomaden. Bei der Verdrängung dieser Menschen zählen Eigentumsrechte und rechtsstaatliche Bedingungen zumeist wenig. Aus diesem Grund hat sich der Begriff „Land Grabbing“ für solche Landnahmen eingebürgert. 

 

Da das Zustandekommen solcher Verträge zu Kauf und Pacht großer Agrarflächen zwischen einer lokalen Oberschicht und internationalen Investoren eine so heikle Angelegenheit ist, die zudem von vielen Afrikanern mit dem Kolonialismus assoziiert wird, treten die Investoren nur ungern ans Licht. Besonders bleiben die Inhalte der Verträge im Verborgenen. Der Weltagrarbericht vermerkt über die Investoren: „Während Länder wie China, die Golfstaaten oder Südkorea bei der globalen Jagd nach fruchtbarem Ackerland häufig im Rampenlicht der Medienberichterstattung standen, bleibt die Rolle von Akteuren aus europäischen Mitgliedsstaaten bei Landnahmen und Menschenrechtsverletzungen weitgehend unbeachtet. Das mag auch daran liegen, dass die Investoren und Firmen aus der EU viele ausländische Tochtergesellschaften haben, die es häufig unmöglich machen, die Spuren zurück in die EU zu verfolgen.“  

 

Entwicklungsökonomen wie Paul Collier nennen detailliert die Faktoren, weshalb der Rohstoffreichtum mancher afrikanischer Länder kaum positive Entwicklung bewirkt. Multinationale Konzerne schaffen gemeinsam mit unfähigen und korrupten Eliten eigennützige Verträge, die oft nur geringe Abgaben an die Länder beinhalten, die sodann veruntreut werden. Gelder aus Rohstoffen lassen sich wesentlich leichter abzweigen, als dies bei normalem Steuergeld der Fall ist. Wo immer möglich, versickert solches Geld. Studien bestätigen gigantische Schwarzgeldabflüsse aus Afrika, die dem Mehrfachen aller Entwicklungsgelder und Investitionen entsprechen. So haben die Staaten Afrikas in den letzten dreißig Jahren durch illegale Geldabflüsse in andere Kontinente nach Schätzung mindestens 1200 Milliarden Dollar verloren, heißt es bei UNO und Afrikanischer Entwicklungsbank. Kofi Anan bezeichnet diese Kapitalabflüsse als das zentrale Entwicklungshindernis Afrikas.

 

Die Ausgangsfrage war jene nach der Moral. Wir können die Ansicht vertreten, dass die Kleinbauern, die das Land seit Generationen besiedeln, zu schützen sind. Dazu sollten wir aber auch in Betracht ziehen, dass der durchschnittliche Ertrag eines afrikanischen Kleinbauern, der auf Regen angewiesen ist, bei 600 Kilo Getreide pro Hektar liegt. Die Landwirtschaft der Industrienationen schafft hingegen 10.000. Machen aber Dürre, Sintflut oder die Verknappung des Grundwassers aufgrund von Abholzung, Überweidung und Klimawandel einen Strich durch die Rechnung, dann bietet diese Form der Subsistenzwirtschaft den Bauernfamilien kaum noch eine Chance, auf ein Existenzminimum zu kommen. Notwendig wären dagegen die nachhaltige Bewirtschaftung der Böden und des Grundwassers sowie Maßnahmen zum Klimaschutz, besonders aber zur Ernährungssicherheit der Bevölkerung jener Länder. 

 

Auch sollten wir überlegen, welcher Nutzen durch die Geschäfte prinzipiell möglich wäre, sofern die Verträge auch dem Vorteil der Länder und nicht nur einer Oberschicht dienen würden. Sie könnten insbesondere helfen, die Landwirtschaft zu modernisieren und deren Produktivität zu erhöhen und dringend notwendige Transportwege zu schaffen. Dann können die mit den Landgeschäften verbundenen Verträge auch dazu dienen, die Ernährungssicherheit zu erhöhen, Arbeitsplätze zu schaffen, Technologien zur Anwendung zu bringen. Sie könnten sogar Leistungen wie den Bau eines Spitals finanzieren. 

 

Was jedoch die tatsächlichen Vorgänge betrifft, so besteht, wie der Weltagrarbericht vermerkt, kaum öffentliches Wissen um Akteure und Vertragsinhalte. Das darf jedoch nicht wunden. Weltkonzerne, die ihre Geschäftstätigkeit vor einer kritischen Öffentlichkeit zu verantworten haben, werden solche Aktivitäten meiden oder zumindest auslagern und verbergen. Beispielsweise stand der frühere Chef des Weltkonzerns Nestlé, Peter Brabeck, für seine Initiative, Wasser zu privatisieren, in permanenter öffentlicher Kritik:  "Nestlé nimmt Menschen in Afrika das Wasser weg!" Etwas Mühe, die Hintergründe zu erforschen, macht aber rasch klar, dass die Problematik wesentlich komplexer ist. Ebenso finden jene Landgeschäfte in solchen afrikanischen Ländern mit fehlender Rechtsstaatlichkeit statt, die im Korruptionsindex die letzten Ränge belegen. Würde Nestlé offiziell in Erscheinung treten, so käme der - dann durchaus zutreffende - Vorwurf: "Nestlé nimmt Menschen in Afrika das Land weg!"

 

Nur: Die Geschäfte finden eben dennoch statt, aber "unter der Decke". Hier stellt sich die Frage, ob dies nicht zu einer Negativauslese möglicher Investoren führt. Und sich letzten Endes gerade jene Investoren die Hände schmutzig zu machen bereit sind, für die einzig der schnelle Profit zählt. 

 

Wir sollten komplexen Problemen nicht vorschnell mit moralischen Urteilen begegnen. Dies kann dazu führen, dass Unternehmen oder Institutionen Tätigkeiten auslagern, um dem eigenen Image nicht zu schaden. Der öffentlichen Wahrnehmung enthoben kann es jedoch zu einer weiteren Verschlimmerung der Situation kommen. Diese Überlegung gilt auch für den Grenzschutz der Europäischen Union. Die erbärmlichen Zustände in den griechischen Flüchtlingslagern werden nicht zuletzt deshalb mit Empörung wahrgenommen, weil sie sich in unserer "moralischen Sphäre" befinden. Dennoch erfolgen keine wesentlichen Verbesserungen, geht es doch darum, eine weitere Fluchtbewegung nach Europa zu verhindern. 

 

Zugleich schickt die Europäische Union Hunderte Millionen Euro nach Libyen, das sich im Bürgerkrieg befindet und von wo die meisten Flüchtlinge und Migranten über das Meer nach Italien oder Malta wollen. Das Geld ist für die Küstenwache, für Training und schnelle Boote bestimmt. Es geht um die Auslagerung des europäischen Grenzschutzes. Zum größeren Teil soll das europäische Geld jedoch den Flüchtlingen und Migranten zugute kommen und ist als Schutz und Unterstützung gedacht. Doch, wie Karim El-Gawhary ausführt, ist es ein offenes Geheimnis, dass die libysche Küstenwache, die Kommandanten der für den Bürgerkrieg rekrutierten Milizen, die Schlepper und "Menschenschmuggler" und ebenso auch  Regierungsbeamte "unter einer Decke stecken". Alle bilden sie ein mafiöses Netzwerk, das gemeinsame Geschäftsinteressen verfolgt und von beiden Seiten, Migranten und Europäische Union, Geld kassiert. Werden Flüchtlinge und Migranten von der Küstenwache erfasst (weil sie nicht zahlungskräftig sind) kommen sie ohne zeitliche Begrenzung in Lager, die zumeist von den Milizen kontrolliert werden.

 

Die Zustände in den griechischen Lagern, wie sie von den Medien gezeigt werden, sind erbärmlich und beschämend. Der ausgelagerte Grenzschutz aber führt zu Lagern in Libyen, wo katastrophale, ja lebensgefährliche Zustände herrschen. Die Versorgung mit Nahrung, obgleich von der UN finanziert, ist so unzureichend, dass es zu Unterernährung kommt. Durch die Wächter geschieht Gewalt, Missbrauch und Folter. Sogar Lösegeld wird von den Herkunftsfamilien der Migranten und Flüchtlinge erpresst. Und was ist mit dem Geld der EU, das doch für Schutz und Unterstützung der Migranten und Flüchtlinge dienen soll? Es versickert zum weitaus größten Teil und unterstützt so indirekt die Milizen. El-Gawhariy schreibt: "Dabei unterminiert die EU mit dieser Politik ihre eigenen Ziele. Denn am Ende kann die Lage in Libyen nur durch ein staatliches Gewaltmonopol und die Lage der Flüchtlinge nur durch Rechtsstaatlichkeit unter Kontrolle gebracht werden." 

 

 

Anmerkungen

 

(1) In den Jahrzehnten seit Luhmanns Kritik entstand das Bewusstsein um eine neue Gefährdung, nämlich jene durch Klimawandel und Erderwärmung. Da Kohlendioxid extrem lange schädigend wirkt, braucht es gesellschaftliches Bewusstsein, um sodann die Emissionen durch politische Maßnahmen möglichst zu begrenzen. Wenn wir in Zukunft keine Verbrennungsmotoren und kein Erdgas zum Heizen benutzen wollen, so werden wir viel mehr emissionsfrei produzierten Strom benötigen als aktuell. Dafür benötigen wir eine zuverlässige Stromversorgung. Doch können Wetterverhältnisse die Stromproduktion durch Solar- und Windkraftwerke unterbrechen. Woher kommt dann die Energie? Um den Klimawandel zu stoppen gibt es aus heutiger Sicht nur zwei Lösungsansätze, nämlich einerseits eine revolutionäre Technik der Stromspeicherung und andererseits die Entwicklung einer neuen Technologie der Kernfusion, die keine schweren Unfälle zulässt und viel weniger Müll produziert, der dann ausreichend sicher gelagert werden muss. Viele Menschen sind sehr skeptisch bezüglich der Atomkraft-Technologie und Endlagerung des Mülls. Sollte jedoch ein technologischer Durchbruch gelingen, braucht es die Bereitschaft, unabhängigen Experten zu vertrauen. Auch der Entwicklung künstlicher Intelligenz könnte in Hinsicht auf einen verantwortungsvollen und sparsamen Stromverbrauch Bedeutung zukommen.  

 

(2) Das Prinzip der Gewaltfreiheit gilt aber noch grundsätzlicher, nämlich in allen Bereichen unserer Gesellschaft. So zwingt das Recht Eltern zur gewaltfreien Erziehung. Und selbst dort, wo Kampfsport betrieben wird, gibt es den Leitsatz, wonach Konflikte außerhalb des Rings gewaltfrei auszutragen sind. Auch das Gewaltmonopol eines demokratischen Staates dient letztlich der Gewaltfreiheit! Wie anhand der historischen Entwicklung von Mordraten ersichtlich wird, schützt staatliche Macht die Menschen zumeist vor Gewalt und Verbrechen, indem Konflikte nicht gewaltsam, sondern mit rechtlichen Mitteln ausgetragen werden. 

Ausnahmesituationen sind spezielle und sehr seltene Situationen, wo gerade das Unterlassen von kontrolliert eingesetzter Gewalt die Verursachung von noch mehr Leid befürchten ließe. Beispielsweise befürworten viele Menschen den Einsatz von Sicherheitstruppen der Vereinten Nationen, wenngleich Kampfhandlungen immer auch die Tötung Unschuldiger nach sich ziehen. Zum Schutz der eigenen Familie würden sie notfalls selbst zur Gewalt greifen. Sie entscheiden also, dass ihre prinzipielle Überzeugung für diesen speziellen Fall nicht gilt.

 

 

Literatur: 

Walter Reese-Schäfer: Niklas Luhmann zur Einführung ; Junius 1999

Karim El-Gawhari: Repression und Rebellion ; Kremayr&Scheriau 2020

Peter Singer: Praktische Ethik ; Reclam 2013

Paul Collier: Die unterste Milliarde ; Pantheon 2017

youTube: Niklas Luhmann - Beobachter im Krähennest